Eines vorweg: Beim Wandern ist es das Gleiche wie beim Schrebergarten. Spricht man darüber in der Öffentlichkeit, finden es alle Mist. Aber gegen das Grillen im Kleingarten und den frischen Wind im Kopf hat dann doch niemand etwas einzuwenden. Folglich muss man das Kind einfach nur anders benennen, das wissen Werbestrategen seit Jahren. So wird aus dem Schrebergarten ein Stadtgarten, in dem man eigenständig, ökologisch und bewusst unbehandeltes Obst und Gemüse anbauen kann. Und aus dem Wandern wird das Hiking. Das ändert zwar nichts an dem was es ist, es klingt aber eindeutig cooler. Und dennoch: Auch beim Hiking setzt man einen Fuß vor den anderen. Nicht mehr, nicht weniger.
Ich gehe wandern, seitdem ich 19 Jahre alt bin. Nur damals war es noch schlimmer, den Gleichaltrigen zu sagen, was man da macht. Heute ist es einfacher. Hiking, weißt du, abschalten, Birne frei kriegen, den Stecker ziehen. Offline und so, du verstehst?
Aber es ist mehr als das. Es ist eine Flucht nach vorne, weg von den Dränglern, Nörglern, Hetzern, Schubsern. Du suchst dir einen vielversprechenden Weg und gehst einfach los. Deine Schritte fangen früher oder später deine kreisenden Gedanken ein. Du riechst den Wald, hörst dich gehen, deinen Atem, deine Schritte, du berührst frisch geschlagenes Holz. Mit jedem Schritt verlässt du die rechten Winkel, die eckigen Räume, die hochauflösenden Monitore. Du läufst durch ein Landschaftsgemälde und bist plötzlich Teil des Hier und Jetzt. Was du siehst, hörst, riechst und spürst ist das was ist. Und du mittendrin.
Ich habe mir einen Teil des Eifelsteigs ausgesucht. 3 Tagesetappen in Nordrhein-Westfalen, drei Tagesetappen in Rheinland-Pfalz. Keine Etappe unter 20 Kilometer oder, in Wanderkreisen beliebter, unter sechseinhalb Stunden Gehzeit. Wanderungen, insbesondere im Hochgebirge, werden selten in Kilometern gemessen. Wanderungen werden stets in Gehzeiten angegeben, denn meistens kommt es nicht auf die Distanz, sondern auf die zu überwindenden Höhenmeter an. Und dann kommt er mir immer wieder in den Kopf, dieser Dialog aus dem legendären ersten Teil der Piefke-Saga, dieser wahnsinnigen deutsch-österreichischen Produktion aus dem Jahr 1990, zu der Felix Mitterer das Drehbuch schrieb: Wie weit ist es bis zur nächsten Hütte, fragt der deutsche Piefke in seinem rot-weiß karierten Hemd einen Einheimischen. Der antwortet: fünf Stunden. Für dich acht.
Ich habe mir den Oktober als Wanderzeit ausgesucht. Keine rot-weiß Karierten mehr auf dem Trail (denen ist es schon zu kalt) und sechs Tage die Schnauze halten, Gedanken einfangen. Und so werde ich schon auf meiner ersten Etappe von einem Bauern, der auf dem Feld den Hänger seines Schleppers mit Feuerholz belädt, gefragt, ob ich der erste oder der letzte sei. Bis ich verstehe, vergeht etwas Zeit. Er denkt, ich sei in einer Gruppe unterwegs. Ich winke ab. Ob denn das alleine nicht langweilig sei, so ganz ohne quatschen. Ich pfeife, genau darum geht es doch. Er winkt mir nach.
Am Abend betrete ich – ich habe ganz genau nachgerechnet – nach dreiundzwanzig Jahren erstmals wieder eine Jugendherberge. Und was gibt es zum Abendbrot? Genau, Hagebuttentee. Ich strecke meine Beine im Mannschaftsquartier, auf den Gängen geht es darum, ob die Mädchen heute Nacht bei den Jungs oder umgekehrt. Mir soll alles recht sein, ich schlafe ein.
Der zweite Tag treibt mir den Nebel in feinen Perlen auf die Oberlippe. Und schon nach zehn Minuten schwitze ich, obwohl ich nur im T-Shirt laufe. Ich schwitze die vergangenen Monate aus, die Monate in Hektik und Eile, die Monate in Ärger und Frust. Und ich schwitze die Wichser aus, die mir in der vergangenen Zeit begegnet sind. Auch das ist Wandern: Wichser ausschwitzen.
Noch sind die Füße schneller als meine Augen. Als mein Kopf sowieso, am dritten Tag. Und trotzdem kann ich langsam damit beginnen, auch mal stehen zu bleiben, die Bilder auf mich wirken zu lassen. Eine Baumgruppe am Horizont, Moos auf alten Stämmen, Wolkenformationen. Eine im Nebel verschwindende Überlandleitung. Ich flippe aus bei so viel Schönheit. Ich laufe vorbei an Stauseen, Flussläufen, Heiligenhäuschen. Eifel eben.
Ich stehe früh auf, ich gehe früh schlafen. Nicht nur am vierten Tag. Ich esse, ich trinke, abends lese ich. Ich werde endlich wieder müde, meine Augen sind schon nachmittags schwer. Und dennoch: Bis ich den Großstadttakt endgültig los werde, mussten vier Tage vergehen. Erst am vierten Tag schalte ich um auf den Treibgut-Modus, bin dazu bereit, auch tagsüber Pausen zu machen.
Ich mag das Gewicht des Rucksacks am fünften Tag, er hindert mich daran, doch noch zu schnell zu werden. Und mit jedem Schritt wird deutlicher, was wichtig ist. Ich schaue gelegentlich in die Karte. Manchmal erschrecke ich vor der noch bevorstehenden Distanz. Manchmal bin ich untröstlich, dass es schon bald vorbei sein soll. Ich höre den Wind in den alten Kiefern, sehe einen Greifvogel in der Thermik. Ich schreie auf einem Gipfel in den Wind.
Ich ordne Erinnerungen, ich kann mich plötzlich an Dinge erinnern, die lange verschollen waren, irgendwo da oben in meinem Kopf verschollen waren. Ich erinnere Lieder, Textzeilen, Menschen. Ich erinnere Menschen.
Noch am fünften Tag begegne ich abends einer Wandergruppe, bestehend aus sieben Damen Ende Fünfzig. Und ich denke mir, dass ich das auch irgendwann will, mit Freunden losziehen und gemeinsam laufen.
Das Laufen war für mich immer schon mehr als bloß „Bewegung an frischer Luft“. Das Laufen war für mich schon immer Meditation, Therapie. Und mehr noch als beim Radfahren nehme ich wahr, schreibe ich in Gedanken Gedichte. Das Laufen ist das, was für den Kopf auszuhalten ist; das Laufen ist nicht zu schnell, um das zu erfassen, was auf und neben dem Weg geschieht. Und gleichzeitig schaut man immer auch ein bisschen nach innen.
„Se sin äwwer kühl ahn“, sagt die Pensionswirtin, als sie mich am Morgen des sechsten Tages mit einem T-Shirt ziehen lässt. Und es ist wie an jedem Morgen auf dieser Tour: der Nebel ist kalt und feucht und kriecht in die Klamotten. Und wenn du in die Höhe stapfst, dann wird es warm, und man läuft stundenlang durch Laubwald, Nadelwald, Laubwald. Das Wort latschen verliert sein Negativ. Latschen. Ich, du, er, sie, es latschen. Viel häufiger müsste man auch in der Großstadt einfach mal latschen.
Der Zug bringt mich am siebten Tag zurück in die Stadt. Aber er ist gnädig. Er fährt nicht zu schnell. Und tatsächlich kann ich aus dem Zugfenster einen Teil der von mir gelaufenen Strecke erkennen. Je näher wir an die Großstadt kommen, desto mehr verändern sich die Menschen, die Jugendlichen sowieso. Weniger Bücher, mehr Notebooks. Und am Ende bin ich am Düsseldorfer Hauptbahnhof der Einzige, der Wanderschuhe trägt. Und noch immer keine Uhr.
Der Düsseldorfer Sven-André Dreyer ist Autor, Moderator, Veranstalter und – leidenschaftlicher Wandersmann. Im Oktober 2015 war er auf dem Eifelsteig unterwegs, einem Fernwanderweg, den es seit 2009 gibt. Sein Weg führte ihn von Einrur nach Gerolstein. An sechs Tagen bewältigte Dreyer 131,8 Kilometer und 6212 Höhenmeter.
3 Kommentare
KommentierenGeliebter Freund,
während deine Worte von deiner Eifelwanderung, mich tief in meiner Seele berühren, fällt mir zusätzlich der Satz ein: „Lausche der Weisheit, die dein Blut dir rauscht.“
Ich glaube er stammt von Hermann Hesse und trifft so wunderbar auf deine Schilderungen.
Danke für deine Authentizität
Michael
Wunderbarer Beitrag, Sven.
Freue mich, hier mehr von Dir zu lesen.
Ganz liebe Grüße. Uli
Lieber Sven,
wie wunderbar du von dir erzählst. Aus Zeitgründen konnte ich nur 7 min lesen und freue mich darauf deinen ganzen Bericht aufzusaugen und der Innigkeit deiner Eifelbilder nachzuspüren…
Michael Jaeger