In der vergangenen Woche erschien das neue Buch des Düsseldorfer Autors Dorian Steinhoff. „Die dunkle Jahreszeit“ ist ein schmaler Band geworden. Ein Essay über das Schreiben plus eine Erzählung. Zu letzterer ließ sich Steinhoff durch eine Reportage über eine Einbrecherbande in der ZEIT inspirieren. Ein Ausschnitt.
Auf dem Heimweg, nach halber Strecke, zog er Stiefel und Socken aus und krempelte sich die Hosenbeine über die Knöchel. Dann band er die Schnürsenkel zusammen, hängte sich die Stiefel über die linke Schulter und ging barfuß und langsam weiter. Der Bürgersteig war noch tagwarm.
Er zählte die Straßenschilder, an denen er vorbeikam, schaute in Hinterhöfe und Erdgeschossfenster. Ab und zu fasste er sich an die Schulter und drückte an ihr herum. Unter einem Baum blieb er stehen und sah nach oben. Die Umrisse der Blätter flimmerten flau im Wind. Kaum ein Geräusch, kein Rauschen. Nur die Anwesenheit des Baumes, seine Größe, sein Gewicht, seine Wurzeln, die von unten den Bürgersteig nach oben wölbten. Die Süßigkeiten schäumten in seinem Magen. Er schlug mit der flachen Hand gegen den Stamm, zwei Mal und fest, wie bei ernstgemeinten Ohrfeigen. Es flog kein Vogel auf, kein Eichhörnchen flüchtete, kein Ast zitterte, der Baum stand unbewegt da, und er würde genauso dort stehen, wenn Roman nicht gegen seinen Stamm geschlagen hätte. Er rückte die Schnürsenkel über seiner Schulter zurecht und hatte in diesem Moment vergessen, an wie vielen Straßenschildern er vorbeigekommen war.
Bevor er das Haus betrat, zog er sich Socken und Stiefel wieder an. Im Treppenhaus versuchte er nicht zu atmen. So lange er konnte. Die Wohnungstür stand einen Spalt offen. Er trat ein und ging durch den dunklen Flur. An dessen Ende öffnete er eine Tür und blickte in das schmale und lange Zimmer.
Die Männer saßen im Kreis auf dem Boden und spielten Karten. Es war eng, Roman hätte über sie steigen müssen, um zu seinem Bett zu kommen. Eine nackte Glühbirne hing an einem Kabel von der Decke. An den Seitenwänden standen acht Stockbetten mit grauen Decken und flachen Kopfkissen. Vier auf jeder Seite. Am Kopf des Zimmers hingen offene Wandregale. Vollgestopft mit Sporttaschen, Kleidung und Schuhen. „So früh heute?“, sagte einer.
„Hatte Hunger.“
„Du kochst für uns? Das ist aber nett.“
„Ja, und danach dürft ihr mich alle in den Arsch ficken.“
„Frech, der Kleine.“
„Vielleicht sollten wir sein Angebot annehmen.“
„Was gibt es denn?“
„Geht dich nichts an.“
„Wenn du die Kartoffeln kochen willst, die du in deiner Tasche gehortet hast, bist du zu spät.“
Roman machte einen langen Schritt, stieg über den Sitzkreis, ging weiter zum Wandregal und sah in seine Tasche. Keine Kartoffeln. Er ging in die Küche. Ein leerer Topf stand auf dem Herd. Ein zerrissenes Kartoffelnetz lag neben der Mülltüte auf dem Boden. „Ihr blöden Arschlöcher“, rief er. So laut, dass sie es im Zimmer hören mussten. Er fasste den Topf am Griff und hob ihn über den Kopf, um ihn auf den Boden zu schmeißen wie ein wütender Tennisspieler nach einer Fehlentscheidung des Linienrichters. Die Männer im Schlafraum lachten und Roman ließ den Topf wieder sinken. Er kam sich lächerlich vor und klein. Sein Magen knurrte. An den Rändern der Herdplatten haftete eingebranntes Fett. Die hellbraune Resopalverkleidung der Hängeschränke starrte ihm entgegen. Er stellte den Topf zurück auf den Herd und ging in den Flur. An die Wand gelehnt sank er in die Hocke, nahm sein Handy aus der Hosentasche, begann Snake zu spielen und dachte daran, wie schön es wäre, mit warmen Kartoffeln und reichlich Butter im Magen neben Tereza zu liegen. Er drückte sehr fest auf die Tasten seines Telefons.
Dorian Steinhoff: Die dunkle Jahreszeit
Erzählung und Poetik
80 Seiten, 12 Euro
Edition 12 Farben, herausgegeben vom rhein wörtlich e. V.