Wenn man in erster Linie in der eigenen Stadt von Berufs wegen neugierig ist, kann man schon mal den Eindruck bekommen, man kenne wirklich jeden gottverdammten Quadratzentimeter. Warum also nicht mal eine Auswärtsfahrt riskieren? Gedacht, getan. An einem Samstag, an dem der FC bei der TSG Hoffenheim mit 0:6 unterging, war theycallitkleinparis in Colonia unterwegs. Allerdings nicht direkt am Dom, sondern ein paar Kilometer weiter westlich: in Ehrenfeld.
Diversity rules: Venloer Straße
Der einstige Industrie- und Arbeiterstadtteil erlebt seit einigen Jahren einen regelrechten Boom. Es ist wie immer in solchen Fällen. Der Strukturwandel geht seinen Gang. Die Industrie schließt oder wandert ab. Die frei gewordenen Flächen sind günstig zu haben. Künstler und Kreative kommen, schaffen kleine Oasen. Und dann wollen alle. In Ehrenfeld ist das nicht anders. Dennoch erscheint das Veedel mit den unzähligen Street-Art-Werken und den hübschen Gründerzeitbauten, was seine Bewohnerschaft angeht, wesentlich inhomogener als Beispielsweise der Düsseldorfer Stadtteil Flingern.
Hauptschlagader des Viertels ist die Venloer Straße. Hier welchseln sich Dönerbuden mit Secondhand-Shops (Humana, Venloer Str. 365; Rotkreuz-Shop, Venloer Str. 349), alteingesessenen Kölsch-Kneipen, Gemüseläden und veganen Yoga-Cafés ab. Auf der Venloer Straße 414 lockt ein besonderes Angebot: Das junge Kölner Startup The Good Food verkauft dort seit Anfang 2017 ausschließlich Lebensmittel, die vor dem Müll gerettet wurden. Das kann aus der Form geratenes Gemüse sein, Backware vom Vortag oder Supermarktartikel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist. Feste Preise hat die Ware nicht. Der Kunde zahlt, was es ihm/ihr Wert ist.
„Fleischhölle von Ehrenfeld“
Beim Kebapland gibt es fixe, aber faire Preise. Einen Steinwurf vom Ehrenfelder S-Bahnhof entfernt liegt der kleine unauffällige Flachbau mit dem hohen Schornstein. „Will man einen Veganer hart bestrafen, dann steckt man ihn einen Tag lang ins Kebapland“, schrieb das Kölner Boulevardblatt Express über den von einem Kurden betriebenen Imbiss. „Es ist die Hölle. Die Fleischhölle von Ehrenfeld!“ Tatsächlich stapeln sich in der Imbiss-Theke Spieße unterschiedlicher Provenienz. Lammspieße. Hähnchenspieße. Adana. Immerhin: Für Vegetarier ist der Dürüm auch in fleischloser Variante zu haben. Das teuerste Tellergericht, der gemischte Grillteller, schlägt mit 13 Euro zu Buche. Einer der prominentesten Fans des Ladens ist Jan Böhmermann. „Begrabt mein Herz im Kepabland“ schrieb der Unterhalter bei Facebook und Twitter über seine favorisierte Speisestube. Und pries den Ausblick auf die gegenüberliegende Polizeiwache: „Ein absoluter Traum, Eventgastronomie quasi.“
Böhmermanns Produktionsfirma Bildundtonfabrik sitzt ganz in der Nähe, auf der Leyendeckerstr. 27. In einem laut Express „tristen Hinterhof“ auf der Oskar-Jäger-Straße 160, ebenfalls Ehrenfeld, befindet sich das Studio König. In dem ehemaligen Teppichladen, der mittlerweile das zweitgrößte Fernsehstudio im linksrheinischen Köln beherbergt, wird Böhmermanns Sendung Neo Magazin Royale aufgezeichnet.
Am Meer?
Gleich um die Ecke vom Dönertempel Kebapland liegt Ehrenfelds bekanntestes Industriedenkmal: der Heliosturm. Dieser Leuchtturm, der jeglicher Nähe zum Meer entbehrt, wurde 1885 errichtet und gilt heute als eine Art Wahrzeichen des Viertels. Er gehörte zu der 1930 erloschenen Helios AG, die unter anderem Leuchtmittel für Leuchtfeuer herstellte. In Ehrenfeld hat der Leuchtturm keine Funktion. Nach einer Rekonstruktion 1996 leuchtet er trotzdem wieder. Zu seinen Füßen liegt ein knapp vier Hektar großes Gelände, das in der Domstadt längst zum Politikum geworden ist. Neben einer Grund- und Gesamtschule, die voraussichtlich zum Schuljahr 2023/24 eröffnen soll, ist hier laut Internetseite der Stadt Köln eine „lebendige Mischung aus Wohnen, Kultur, Gewerbe und Einzelhandel“ geplant. Andere müssen dafür Platz machen. Im November 2017 traf es das altehrwürdige Underground. Nach fast 30-jähriger Geschichte wurde der Club abgerissen. Die Kölner Filmemacherin Anna Ditges hat die Entwicklungen rund um das Heliosgelände mit der Kamera begleitet. Ihr Dokumentarfilm Wem gehört die Stadt aus dem Jahr 2015 lässt Anwohner, Investoren, Politiker und Stadtplaner zu Wort kommen.
Echt Kölnisch Wasser
Auch anderswo ist das Viertel dabei sich zu verändern. Das 4711-Haus auf dem Areal des Barthonia-Forum hat im vergangenen Jahr den Besitzer gewechselt. Corestate, eine Gesellschaft mit Sitz in Luxemburg, hat das denkmalgeschützte Gebäude erworben. Der Bau, der Ende der Fünfziger Jahre als Sitz der Verwaltung des Parfümherstellers Ferd. Muelhens errichtet worden war, soll in Zukunft zum Aparthotel umfunktioniert werden. „Ehrenfeld ist ein lebendiger Stadtteil und bietet sehr gute Einkaufsmöglichkeiten, zahlreiche Restaurants und Bars, sowie Fitnessstudios“, sagte ein Corestate-Sprecher über die Umgebung der erworbenen Immobilie. Bei derartigen Sätzen wird manch einem Angst und Bange.
Wie in Schweden
Was könnte Angst besser vertreiben als ein kleiner Snack? Richtig: nichts. Zeit für Brot nennt sich eine Bäckerei mit Filialen in Berlin, Hamburg, Frankfurt und Köln, in der die Kunden den Bäckern bei ihrem Handwerk über die Schulter schauen können. Noch größere Aufmerksamkeit als die, die es kreieren, wird nur der Backware selber zuteil. In der langen Theke liegen liebevoll belegte Stullen neben Mohn-, Ahorn-Walnuss- oder Zimtschnecken. Sämtliche Produkte werden aus Bioland-Zutaten hergestellt. Gearbeitet wird mit Lieferanten aus der Region. Überschüssige Ware geht an Bedürftige. Das Ergebnis ist – und das sagt theycallitkleinparis ohne dafür einen Cent bekommen zu haben – fantastisch: Die Zimtschnecken sind die ersten hierzulande, die mit den Originalen aus Schweden ernsthaft mithalten können, Kaffee ist ebenfalls uneingeschränkt zu empfehlen. Self-Service mit fixem Personal komplettiert das Vergnügen. Und wer einen Platz auf der Straßenterrasse ergattern kann, genießt zudem uneingeschränkten Blick auf das quirlige Treiben auf der Venloer.
Freitags: Gebet
Das wird ein Stück weiter Richtung Innenstadt noch quirliger. Vor der Kölner Zentralmoschee, dem bundesweit größten Moscheekomplex überhaupt, herrscht auf dem Bürgersteig reges Treiben. Ein Reisebus parkt vor dem imposanten, von dem Architekten Paul Böhm entworfenen Bau. Kinder rennen herum. Männer plaudern. Frauen zücken Handys, um Fotos von dem 36 Meter hohen Kuppelbau zu machen, der von zwei Minaretten gesäumt wird. Bevor hier das erste Freitagsgebet abgehalten werden konnte, war es allerdings ein langer Weg. Zunächst galt es, die Vorbehalte in der Bevölkerung zu entkräften. In der Folge verzögerte sich die ursprünglich für 2012 geplante Eröffnung wegen eines juristischen Streits über Baumängel Jahr für Jahr. 2017 war es dann endlich so weit. Fünf Mal am Tag beten die Muslime seitdem Richtung Mekka, jeweils rund zehn bis 20 Minuten. 1200 Gläubige fasst der Saal mit dem dicken blauen Teppich. Er steht übrigens nicht nur Muslimen offen. Sondern allen Bürgern, unabhängig von ihrer Religion. Eine Offenheit, die perfekt passt zu dem Viertel, in dem die Moschee steht: zu Ehrenfeld.
Trailer zum Film „Wem gehört die Stadt?“: