Der Stadtteil Ratingen-West ist für die Nachbarstadt in etwa das, was Garath für Düsseldorf ist. Ein Quartier, das gerne schon mal als „Problemstadtteil“ oder „sozialer Brennpunkt“ bezeichnet wird. Auf nur einem Quadratkilometer leben 20.000 Menschen, mehr als ein Viertel der Ratinger Gesamtbevölkerung. Das Wohnen in den Hochhäusern ist günstig, der Anteil an Hartz4-Beziehern, Ausländern, Aussiedlern, kinderreichen Familien und Alleinerziehenden dementsprechend höher als im Rest der Stadt. Eine Ausstellung im Museum Ratingen stellt nun Bezüge zwischen dem tiefen Ratinger Westen und der Bauhaus-Idee des Neuen Bauens her. Klar, wir schreiben 2019. Dieses Jahr wollen alle ein Stück vom Bauhaus-Kuchen.
Aber in Ratingen hat man das prima gelöst. Der Bezug wirkt keinesfalls an den Haaren herbeigezogen, sondern vielmehr naheliegend. Und die Umsetzung des Themas gelingt der Ausstellung „Entwurf Zukunft. Ratingen-West und das Neue Bauen“ hervorragend. Das liegt allen voran an den großformatigen Fotos von Markus Schwier. Im Jahrhundertsommer 2018 begab sich der Düsseldorfer Fotograf auf eine Expedition nach Ratingen-West, von der er viele eindrucksvolle Aufnahmen mitbrachte, die von Respekt, ja fast Zuneigung für das Viertel zeugen. In Mittelpunkt der Bilder steht stets die klare schnörkellose Architektur. Autos, Grünpflanzen, Balkonmöbel oder Sonnenschirme zeugen zwar davon, dass hier Menschen leben, im Bild festgehalten sind sie aber nicht.
In der Ausstellung werden die Schwierschen Fotos historischen Exponaten gegenübergestellt: Schriftstücken, Plänen und Wettbewerbs-Entwürfen, aber auch Möbeln, einem Nachbau des interkulturellen Gartens oder einem 70er-Jahre-Dreirad des Herstellers Rolly Toys, das in Sattel- wie Lenkerform schwer an die damals ebenfalls sehr verbreiteten Bonanza-Räder erinnert. Eine Dia-Show mit Aufnahmen aus dem Jahr 1973, seinerzeit von Schülern aufgenommen, vermittelt zudem einen guten Eindruck vom Alltagsleben der 1970er-Jahre.
Wie aber entstand das Quartier? Nach Ende des Zweiten Weltkrieg herrschte in Ratingen wie vielerorts Wohnungsnot. Man begegnete ihr mit dem Bau von Großwohnanlagen außerhalb der Zentren. Auf den Feldern zwischen Düsseldorf und Alt-Ratingen entstand ab 1967 in knapp zehn Jahren ein neuer Stadtteil: Ratingen-West. Die Idee des Neuen Bauens entwickelte sich schon Jahrzehnte früher – zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg nämlich. Ziel war es, günstigen Wohnraum mit guter Ausstattung zu schaffen, in möglichst kurzer Zeit und für eine große Zahl von Menschen. Klar sollte die Formensprache sein, auf Ornament wollte man weitgehend verzichten. Die Funktionalität der Gebäude und der nicht selten mit entworfenen Einrichtung sollte sich vielmehr auch in der sachlichen Gestaltung ablesen lassen. Zudem war es Bestandteil der Idee des Neuen Bauens, eine enge Verbindung zur Vegetation herzustellen. So entstanden in Ratingen-West ausgedehnte Grünflächen, die von Wasserläufen und Seen durchzogen werden, dazu Spielplätze für Kinder und Bolzplätze für Jugendliche. Und auch das Amüsement der Erwachsenen sollte im Stadtteil keinesfalls zu kurz kommen: Für sie gab es einen Boccia-Platz sowie Gartenschach. In den 1990er-Jahren wurden einige Bereiche des zuvor öffentlichen Grüns allerdings zu individuellen Mietergärten umgewidmet. Seit 2017 lädt ein interkultureller Gemeinschaftsgarten die Anwohner zum Gärtnern ein.
Die sogenannten Papageienhäuser, drei mit farbigen Aluminiumpaneelen verkleidete Wohnblöcke, galten dabei lange als Markenzeichen des Stadtteils. Das Verkleidungsmaterial war sehr widerstandsfähig und farbecht. Es überstand sogar den „Sauren Regen“ der 1970er-Jahre. Bei einer energetischen Sanierung ließ das Wohnungsunternehmen LEG die Paneelen später dennoch entfernen und ersetzte sie durch eine farblich zurückhaltendere Außenhaut. Als im Jahr 2007 die Platten des ersten Gebäudes abgenommen wurden, bemühte sich ein Sozialwissenschafts-Kurs des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums um einige der originalen Aluminiumbleche – und fertigte daraus Ketten, Ohrringen und Schlüsselanhängern.
Bleibt das Thema Kultur in Ratingen-West. Dem widmet die Ausstellung ein eigenes Kapitel. Und womit? Mit Recht. Die Überschrift ist dem Titel der ersten LP der HipHop-Formation Fresh Familee entliehen: „Coming from Ratinga“ lautet sie. Tatsächlich barg der Schmelztiegel der Kulturen nicht nur Potenzial für Konflikte, sondern auch für eine Vielzahl kultureller Aktionen und Angebote. Seit den 1980er-Jahren entstanden zahlreiche Formate, darunter Festivals, Bands, Buchprojekte und Theatergruppen. Keimzelle der Fresh Familee war der Jugendclub von Ratingen-West am Berliner Platz. In ihren Songs benannten die Jungs mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen die Probleme in ihrer Hood: Rassismus, Drogen, Vandalismus und Perspektivlosigkeit. Heute ist die Band längst Geschichte. Nach vier Alben löste sie sich Ende der 1990er-Jahre auf. Trotzdem erinnert man sich im Stadtteil bis heute mit Stolz an sie. Der dürfte umso größer sein, jetzt, da die Fresh Familee es sogar ins Museum geschafft hat.
Bis 6.10. Museum Ratingen, Peter-Brüning-Platz 1, Di-So 11-17 Uhr
22.9. Ratingen goes West AGAIN: Stadtbesetzung und -rundgang mit Evamaria Schaller, Start: 15 Uhr im Museum Ratingen
2 Kommentare
Kommentierenwieder was gelernt, Danke für den Tipp Alexandra
Genau so soll es sein auf theycallitkleinparis. Die Leser sollen Anregungen bekommen, etwas lernen und sich natürlich auch unterhalten fühlen. Freut mich, dass das in diesem Fall gelungen ist! Und die Ausstellung kann ich wirklich empfehlen. Überhaupt macht das Museum der Stadt Ratingen ein außerordentlich gutes Programm. Davon könnte sich das hiesige Stadtmuseum gleich mehrere Scheiben abschneiden.