Seit 25 Jahren reist der Düsseldorfer Fotograf Thomas Neumann immer wieder in die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Rund 60 Arbeiten, die unterwegs entstanden sind, zeigt er ab dem 13. März im Weltkunstzimmer unter dem Titel „Exakte Vertrauensgrenzen“. theycallitkleinparis hat mit dem gebürtigen Cottbusser gesprochen.
Ich habe neulich ein Interview mit einer Musikerin geführt, die aus der ehemaligen DDR stammt. Sie erzählte mir, dass sie oft negative Reaktionen ernte, wenn sie vom Osten Deutschlands erzählt. Du bist gebürtiger Cottbusser. Machst du ähnliche Erfahrungen?
Nicht unbedingt, es gibt da auch immer wieder Neugierde, aus der ich heraushöre, dass der Osten für viele immer noch terra inkognita ist. In Gesprächen über Ost-West ist es öfter so, dass ich ungewollt eine Erklärer- und Verteidigungsrolle einnehme, was mir dann immer erst später auffällt.
Du bist Jahrgang 1975 und in Cottbus und Königs Wusterhausen aufgewachsen. Wie hast du deine Kindheit in der DDR in Erinnerung?
Ich erinnere mich an viel Struktur und Regeln von Seiten der Schule und Pionierorganisation, die eindeutig erwachsenenorientiert waren. Die Freizeit oder die Ferien empfand ich als sehr unbeschwert und im Rückblick sehr entspannt. Es gab wenig Autoverkehr, wenig Telefone, keine Markenware – als Kinder konnten wir in dieser Hinsicht ungestört durch die Gegend ziehen.
Wann und wie bist du dann erstmals mit der Fotografie in Berührung gekommen?
Ende der 1980er habe ich einen alten Fotoapparat meines Vaters bekommen. Anfang der 1990er, als ich aufs Gymnasium kam, also mit etwa 16 Jahren, habe ich dann intensiver fotografiert. Ein Freund machte eine Fotografenausbildung und mit einer anderen Freundin aus der Schülerzeitung haben wir viel herum experimentiert.
Schon als Schüler hast du die ersten Reisen in die ehemalige Sowjetunion unternommen, um dort zu fotografieren. Damals war der weltgrößte sozialistische Staat gerade zerfallen, der kalte Krieg war vorbei. Wie darf man sich diese Reisen vorstellen?
Unsere Schule hatte einen Austausch mit einer Schule im weißrussischen Minsk. Zuerst waren die Schüler von dort bei uns zu Besuch, dann wir bei ihnen. Das war so etwa 1992/93 und dabei entstanden viele Kontakte und Freundschaften. Die erste eigene Reise führte mich 1993 in die Baltischen Länder, nach Litauen, Lettland und Estland, die als erste Visa-Freiheit eingeführt hatten. Das waren absolute Low-Budget-Fahrradreisen mit einem Freund, die mehr unter einem Abenteuer-Aspekt standen. Das Fotografieren war erst einmal zweitrangig. Wir haben gezeltet oder bei Leuten, die wir kennenlernten, übernachtet. Der Zustand der Baltischen Länder war im Gegensatz zu Russland und anderen relativ stabil. So radelten wir mehrere Wochen von der polnischen Grenze in Litauen bis zur russischen Grenze in Estland. Eine großartige Reise, die dann Lust auf mehr machte.
Welche Art von Motiven hat dich damals interessiert?
Nach dem Schüleraustausch war ich später noch mehrmals in Minsk und 1994 in Moskau zu einem Sommer-Sprachkurs. Und da merkte ich, dass mich das Urbane, die Plattenbausiedlungen, die Ideen der Moderne, das Stadtplanerische interessiert, aber auch das Nicht-zu-Ende-Geplante und dessen Verfall. Damals habe ich mehr Menschen fotografiert, später dann weniger. Es gab auch Experimente zu grafischen Sequenzen.
Du sprichst russisch. Wie waren die Begegnungen mit den Menschen vor Ort zu der Zeit? War so was wie eine Aufbruchsstimmung zu spüren?
Das war von Ethnie zu Ethnie und von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Die kleinen Länder, also das Baltikum, der Kaukasus oder die Ukraine, freuten sich größtenteils über die Unabhängigkeit und die neue beziehungsweise zurück gewonnenen Souveränität. Die dort lebenden Russen waren dann Anfeindungen ausgesetzt. Für Russland als Kernland der Sowjetunion war der Zerfall der SU mental eine Katastrophe. Viele fühlten sich niedergeschlagen und gedemütigt. Es gab einen massenhaften brain drain von intelligenten Menschen. Allein der Überlebenswille der Frauen und die Fähigkeit zum Improvisieren hat die Gesellschaft dort gerettet. Wirtschaftlich war das für alle eine extreme Herausforderung. Trotz aller Probleme der Menschen dort habe ich sehr viele herzliche, großzügige Begegnungen gehabt und wunderbare Menschen kennengelernt. Als Ostdeutscher war man Teil der Sowjetischen Historie und wurde auch so wahrgenommen.
Nach der Schule bist du 1997 zum Studium an die Düsseldorfer Kunstakademie gekommen, in eine Art Vakuum. Damals leitete Bernd Becher offiziell noch die Fotoklasse, de facto waren die Studenten aber sich selbst überlassen. Wie war das für dich?
Zu Beginn des Studiums beziehungsweise bei der Wahl der Akademie war es mir nicht bewusst, dass da gerade eine Ära zu Ende geht. Insofern habe ich es nicht als Vakuum wahrgenommen. Ich hatte mich nicht explizit für die Becher-Klasse beworben und so war ich auch nicht enttäuscht über dessen Ende. Bei den sehr wenigen Treffen mit Bernd Becher und den neuen Studenten spürte ich eine sehr große Generationendifferenz. Das Jahr ohne Professor habe ich nicht negativ in Erinnerung. Ich fing mit der „homo sovieticus“-Arbeit und anderen Projekten an und war da wahrscheinlich recht eingespannt. Zu der Zeit pendelte ich viel zwischen Leipzig und Düsseldorf, was auch intensiv war.
Auf Becher folgte Thomas Ruff. Wie war das Arbeiten mit ihm? Was hat er dir als Student vermittelt?
Er hat zum Glück erst mal viel neue Technik angeschafft, vor allem Computer. Das Labor der Becher-Klasse war schon ziemlich in die Jahre gekommen. Die Ruff-Klasse stand von Anfang an im Focus von vielen Seiten und lockte unheimlich viele Studierende an. So war die Klasse groß und teilweise unüberschaubar. Thomas Ruff hatte einen antiautoritären und unprätentiösen Stil, den ich sehr mochte. Ich glaube, er hat einen intuitiven und kritischen Zugang zur Kunst.
Du lebst seit nunmehr über 20 Jahren in Düsseldorf. Wann waren deine fotografischen Arbeiten zuletzt hier in einer Ausstellung zu sehen?
Vergangenes Jahr hatte ich zwei Arbeiten im Kunstpalast in der „Grossen“. Dann gab es immer mal wieder Beteiligungen in Gruppenausstellungen. Mit unserer Künstlergruppe „Fehlstelle“ haben wir vor ein paar Jahren einiges in Düsseldorf gemacht. Nun gibt es unsere Initiative „dimensions variable“.
Fühlst du dich übersehen?
Schwierige Frage, denn Künstleregos fühlen sich latent immer übersehen… Ich habe lange Jahre gefremdelt mit der Stadt. Meine Themen schienen auch nicht zu passen, meine Referenzpunkt lagen woanders. Nachdem ich 2010 nach zwei Jahren in Japan wieder nach Düsseldorf gekommen bin, hat es sich etwas geändert. Generell mache ich meine Arbeit, habe mein Netzwerk und eine gewisse Unabhängigkeit. Ich schlage selten laute Töne an, um sichtbar zu werden.
Am 13. März startet nun unter dem Titel „Exakte Vertrauensgrenzen“ eine Ausstellung mit deinen Fotografien im Weltkunstzimmer. Was für Arbeiten werden dort zu sehen sein?
Das sind Fotos und Arbeiten von 1994 bis heute, die meinen Weg darstellen. Ein Weg von Ost nach West und wieder nach Ost, wenn man die Himmelsrichtungen denn so strapazieren möchte. In der Ausstellung kommt Biografisches und Historisches zusammen. Es geht um einen Menschen, der in jungen Jahren nach seiner Herkunft und seinem Platz im Jetzt sucht. Später kommt dann mehr Reflexion dazu. Und das alles in Kombination mit Experimenten, Kunst, Reisen, Recherchen. Es sind um die 60 Arbeiten. Kleinformatige Reisefotos, Installationen, ein Video, großformatige Arbeiten. Dazu erscheint im Hatje Cantz Verlag ein Buch, das noch etwas ausführlicher ist als die Ausstellung. In der Ausstellung wie auch im Buch spielt auch ein Gedicht von Durs Grünbein eine Rolle. Es trägt den Titel „Projektor“. Da geht es um Licht, Wahrnehmung, Erinnerung, und das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Für mich bedeutet es, dass man die Welt wahrnimmt und dabei gleichzeitig auch immer als Projektor unterwegs ist und seine eigene Sicht auf alles projiziert. Der letzte Satz lautet „Der Projektor bin ich“.
Der Begriff „exakte Vertrauensgrenze“ stammt aus der Mathematik, aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Warum hast du ihn als Ausstellungstitel gewählt?
Der Titel entstammt einem Triptychon von 1998. Zu der Zeit habe ich viel mit Zeichensystemen, Symbolen und Zahlentafeln gearbeitet. Schemata, die versuchen, die Welt und deren Erscheinungen zu erklären und widerzuspiegeln. Diese Abstraktion und vor allem den dahinterliegenden Wunsch, die Dinge zu ergründen, zu verstehen und zu kategorisieren, das fand ich spannend. So entdeckte ich ein Tabellenwerk, wo Zahlenkolonnen abgedruckt waren, darunter mehrere Seiten mit „Zufallszahlen“ und da waren auch die Zahlen zu den „Exakten Vertrauensgrenzen“. Der Titel hat mich sofort angesprochen. Ich habe diese Zahlen projiziert und mich samt einem Fotoapparat in den Projektionskegel begeben. Eine weitere Kamera hat das fotografiert. Eine Dreiecksbeziehung: die Kamera, die Zahlen und ich.
Mittlerweile reist du seit 25 Jahren immer wieder zum Fotografieren in die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Was suchst du dort, was interessiert dich?
Für mich ist die Sowjetunion ein perfektes Bild für das 20. Jahrhundert. Ausgehend von der Aufklärung hin zur kommunistischen Revolution 1917. Die Moderne, brutal und künstlerisch. Dann mit Stalin ein Rückschritt zu einem despotischen System, was aber die Erschließung des Landes und deren Modernisierung erst ermöglichte. Lager, Gold, Folklore, Elektrifizierung, Krieg. Nach dem Krieg kommt das rationelle Denken mit Chrustschow zurück. Industrielle Stadtplanung, Raumfahrt, Kalter Krieg, Wohlstand. Die Postmoderne, die Kosten des Kalten Krieges und die Unabhängigkeitsbewegungen lassen die SU zerfallen. Die Mythen der SU sind auch meine Geschichte. Visuell und geografisch. Diese Regionen sind voller Narben, die für mich noch ziemlich sichtbar sind.
Welches Land wirst du als nächstes bereisen?
Im Herbst habe ich eine Ausstellung in Japan. Im Sommer verreisen wir mit der Familie, aber da ist die Planung noch offen.
Thomas Neumann „Exakte Vertrauensgrenzen“: 13.3. bis 19.4. Weltkunstzimmer, Ronsdorfer Str. 77a, Düsseldorf, Do-So 14-18 Uhr
Rahmenprogramm: 19.3., 19 Uhr: Buchpräsentation „Exakte Vertrauensgrenzen“ mit anschließendem Gespräch „Fotokunst und Biografie“, Thomas Neumann mit Dr. Eva Pluhařová-Grigienė (Kunst- und Bildhistorikerin, Europa-Universität Flensburg), Gabriele Muschter (Kunstwissenschaftlerin, Publizistin, Kuratorin, Berlin) und Uwe Warnke (Autor, Verleger und Herausgeber von Entwerter/Oder), 2.4., 19 Uhr: Gespräch „Ort, Landschaft, Fotografie“, Thomas Neumann mit Axel Hütte (Fotokünstler, Düsseldorf) und Dr. Anja Schürmann (Kulturwissenschaftliches Institut Essen)
2 Kommentare
KommentierenIch bin extremst neugierig !
Termine sind eingetragen
Na dann: viel Vergnügen beim Ausstellungsbesuch!