Die Corona-Tagebücher #16: Yoga der Ungelenken

Lange galten Menschen, die puzzeln, als ähnlich hipp wie Briefmarkensammler oder Modelleisenbahner. Seit einiger Zeit aber erlebt das Geduldsspiel eine Renaissance. Gerade in der Corona-Krise lernen immer mehr Menschen das eskapistische Hobby neu zu schätzen. Nicole Tzanakis gehört nicht zu jenen, die neu auf den Trend aufgesprungen sind. Die 43-Jährige puzzelt schon solange sie denken kann. theycallitkleinparis hat mit ihr über ihr liebstes Hobby gesprochen.

„Die Zeit“ bezeichnete das Puzzeln unlängst als „das perfekte Krisenhobby“. Du für dein Teil hast schon vor Corona gepuzzelt. Bist du generell eine Trendsetterin?
Ich behaupte das gerne von mir. Wahrscheinlich ist es aber eher so, dass ich immer schon etwas abseitige, teilweise nerdige Hobbys kombiniert mit einem außergewöhnlichen Durchhaltevermögen hatte. Man muss dann nur abwarten, bis der Trend zu einem kommt wie der Berg zum Propheten. Und schwupps – schon wieder Trendsetterin!

Im Ernst: Wie lange gehst du diesem Hobby schon nach?
Ich habe im Grunde genommen in jedem Alter gepuzzelt, so richtig bewusst seit der Kindergartenzeit. Das ging einher mit exzessivem EUROPA-Hörspiele-Konsum. Rückblickend erkenne ich da generell einen Hang zum Exzessiven.

Was macht das Puzzeln mit dir?
Für mich ist Puzzeln eine meditative Beschäftigung, die gleichzeitig die Konzentrationsfähigkeit schult. Es hilft einem, sich zu fokussieren. Stunden vergehen dabei wie im Flug. Und doch denkt man am Ende: „yes, fertig“. Das ist ungemein befriedigend.

Wie viele Teile haben die Puzzles, denen du dich widmest, in der Regel?
Da ich etwas zwangelig (zwangelig ist nach Angaben der Interviewten ein selbst erfundener Ausdruck, der in ihrer Peer Group benutzt wird. Er bedeutet so viel wie zwanghaft, Die Red.) bin, bleibe ich bei Motiven mit entweder 500 oder 1000 Teilen. 500 Teile müssen an einem Abend fertig werden, bei 1000 Teilen gönne ich mir zwei Abende. Das Puzzle darf nicht lange unfertig liegen. Zudem gibt es noch einen recht pragmatischen Grund für diese Einschränkung. Die Maße der größeren Puzzles passen nicht mehr auf meinen Tisch.

Und wie lange brauchst du so dafür?
500 Teile schaffe ich in vier bis fünf Stunden. 1000 Teile dauern dementsprechend doppelt so lange. Obwohl es natürlich einfachere Motive gibt und solche, bei denen man die Teile am liebsten vom Tisch fegen möchte, wenn selbst der Rand nach Stunden noch nicht steht.

Welches war dein schwierigstes Motiv?
Das schwierigste war ein selbstgedrucktes. So was kann man bei Ravensburger machen lassen. Ich dachte, es wäre lustig, ein Motiv mit dem eigenen Hund zu puzzeln. Leider erwies es sich als mega ungeschickt, den Hund im Fokus vor unscharfem blauem Himmel auf grüner Wiese zu fotografieren. Das war eher anstrengend.

In der momentanen Krise entdecken gerade viele Leute das Puzzeln für sich. Gib doch mal ein paar Tipps für Einsteiger! Wie startet man am besten, wenn man 1000 Teilchen vor sich liegen hat?
Ich denke, es ist seit jeher Standard, zuerst die Randteile herauszusuchen. Da kann man sich dann gerne etwas Zeitdruck machen – beidhändig aus dem Teilehaufen, Randteile in eine Hälfte des Deckels, den Rest in den anderen Teil sortieren. Dann den Rand fertigstellen und sich über das erste Erfolgserlebnis freuen! Oder verzweifeln, weil anscheinend immer noch EIN Randstück fehlt, obwohl man doch mit dieser Technik jedes einzelne Stück in Händen hatte.
Im zweiten Schritt überlege ich mir erst einmal, welche Bildelemente einfach, also klar abgrenzbar in Farbe und Form sind. Die dazugehörigen Teile lassen sich am schnellsten finden. Die komplizierten Stellen hebe ich mir dann für den Schluss auf, wenn eh die Anzahl der Teile überschaubar wird. Auf der Zielgeraden gehe ich dann tatsächlich dazu über, die letzten Teile nach den fünf bis sechs verschiedenen Formen zu sortieren, um schneller das passende Stück zu finden.

Und was macht man gegen Rückenschmerzen?
Ich sitze generell auf dem Boden mit den Beinen nach vorne ausgestreckt an meinem Sofatisch. Das verhindert jegliche Rücken- und Nackenschmerzen und evoziert zugleich eine Erinnerung an die Zeit, in der man im Schneidersitz auf dem Kinderzimmerteppich vor dem Puzzle saß und parallel den Hörspielen lauschte. So wird das Ganze dann fast zu einer Art Eskapismus – und dies könnte der Grund sein, weshalb Menschen sich gerade in der Krise an diese Art der Beschäftigung erinnern.

Würdest du zur Verwendung einer sogenannten Puzzlematte raten?
Das ist ein Artikel, den ich persönlich nicht benötige. Bei Puzzeln über 1000 Teilen und bei nicht so intensiven Puzzle-Einheiten ist es jedoch unter Umständen nützlich. Es möchte vielleicht nicht jeder den Küchentisch über Wochen blockieren.

Von dir vielleicht einmal abgesehen: Ich stelle mit Menschen, die puzzeln, ähnlich vor wie Modelleisenbahner. Wahr oder doch ein Klischee?
Haha, damit bekommst du mich nicht! Für mich ist das Puzzeln eher das Yoga der Ungelenken. Ich finde es ganz spannend, wer sich gerade alles selbst outet. Die Dunkelziffer bei Puzzlern ist offensichtlich sehr hoch. Und da sind wir wahrscheinlich die neuen Wilden, die selbstironisch die kitschigsten Einhörner im Dämmer- und Wölfe im Mondlicht zusammenfügen. Die Selbstironie unterscheidet den modernen, coolen Puzzler vom Modelleisenbahner.

Am 11. September 2001, als in New York die Flugzeuge in die Türme flogen, warst du auch mit Puzzeln beschäftigt. Welches Motiv hattest du damals gerade auf dem Tisch?
Das ist meine 9/11-Story. Und sie ist wahr, ich habe eine Zeugin, ich kann dir die Nummer geben. Tatsächlich habe ich an diesem Tag klassisch auf dem Boden gesessen und die Skyline mit den Twin Towers gepuzzelt. Plötzlich rief meine damalige Mitbewohnerin in mein Zimmer rüber, ich solle doch schnell kommen, es gebe einen Terroranschlag. Die Geschichte glaubt einem doch niemand! Das Puzzle habe ich bis heute im Keller aufbewahrt. Quasi als Beweis.

Wie weit warst du, als du von den Geschehnissen in New York hörtest?
Ich war kurz vor der Fertigstellung.

Und hast du das dann noch zu Ende gebracht?
Klar, Puzzler-Ehre. Es liegt immer noch ordentlich in vier Teilen im Karton.

Wie unheimlich warst du dir in dem Moment selber?
Das war einer der spookigsten Momente meines Lebens! Seither habe ich Gebäudepuzzleverbot!
Obwohl die Elbphilharmonie hier noch unausgepackt liegt.

Es gibt ja Menschen, die die Dinge eher erspüren, als dass sie sie rational erfassen. Man spricht in dem Zusammenhang gerne vom zweiten Gesicht. Bist du eine von ihnen?
Nein, das ist so gar nicht meins. Ich bin gaaaanz weit von Aberglaube, Esoterik und Ähnlichem entfernt. Das war einfach purer Zufall. Und ich werde einfach immer wissen, was ich an diesem Tag gemacht habe. Ich weiß übrigens auch noch, was ich Morgen nach Lady Dis Tod gemacht habe…

Du hast es schon erwähnt: Seit den Vorkommnissen am 11. September 2001 puzzelst du keine Gebäude mehr. Was sind heute deine Motive?
Ich tendiere zum Kitsch. Einhörner sind ganz weit vorne. Danach kommen direkt Drachen, Delphine und Wölfe. Ravensburger wird nicht müde, meine Bedürfnisse in dieser Hinsicht zu befriedigen. Beim Motiv Einhörner war ich übrigens auch Trendsetterin.

Welches ist dein aktuelles Motiv?
Ich mache gerade ein weiteres „Drei Einhörner grasen im romantischen Herbstwald“-Motiv, mit 1000 Teilen.

Und wie viele Teile brauchst du noch, um es zu komplettieren?
Ich stehe am Anfang.

In dieser Reihe bisher erschienen:

Die Corona-Tagebücher #1: Solidarische Nachbarschaft Düsseldorf

Die Corona-Tagebücher #2: It’s oh so quiet

Die Corona-Tagebücher #3: Falsche Verknüpfungen

Die Corona-Tagebücher #4: Vom Geben und Nehmen

Die Corona-Tagebücher #5: Der Radius wird kleiner

Die Corona-Tagebücher #6: Kunst & Quarantäne

Die Corona-Tagebücher #7: Hausmusik

Die Corona-Tagebücher #8: In die Leere

Die Corona-Tagebücher #9: Virologen-Merchandise

Die Corona-Tagebücher #10: Was heißt hier sofort?

Die Corona-Tagebücher #11: Unfrisur

Die Corona-Tagebücher #12: Was heißt hier sofort? (2)

Die Corona-Tagebücher #13: Fußmatten-Genießertresen

Die Corona-Tagebücher #14: Unter erschwerten Bedingungen

Die Corona-Tagebücher #15: Hilft Humor?

1 Kommentar

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Ein Interview mit Witz und Tiefe. Sehr gelungen. Musste laut Lachen über das Erlebnis mit dem selbstgewählten Motiv. Ja, genau das ist mir auch passiert. Seitdem weiß ich die Motiv- und Farbwahl, sowie die designtechnische Umsetzung der Puzzlehersteller sehr zu schätzen. Das Puzzle-Gefühl hat Frau Tzanakis sehr gut beschrieben, dieses tiefe Eintauchen in eine Welt und dabei alles andere vergessen. Wenn ich bestimmte Lieder höre, entsteht vor meinem inneren Auge ein Puzzlemotiv und mich überkommt ein Gefühl der Ruhe und des Friedens. Puzzlen ist ein wunderbares Hobby.
Viele Grüße von einer Puzzle-Liebhaberin

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