In den neunziger Jahren machte er mit krassen Texten und markanten Auftritten von sich reden. Später wurde es dann sehr still um ihn. So still, dass man das Schlimmste befürchten musste. Jetzt ist Philipp Schiemann zurück. Am 16. August liest er im WP8. Bevor es so weit ist, hat theycallitkleinparis mit ihm gesprochen.
Philipp, wie lange ist deine letzte Lesung in Düsseldorf her?
Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Es dürfte an die zehn Jahre oder länger her sein. Ich habe bis 2005 Buch geführt mit den Lesungen, und danach zersplittert sich das. Ich kann mich an eine Lesung 2013 in Mönchengladbach erinnern – kurz vor meiner letzten Entgiftung. Eine Vollkatastrophe mit Ohnmachtsanfall mittendrin. Ich glaube, hinsichtlich Düsseldorf wollte ich mir immer das letzte bisschen Würde bewahren, und die paar Freunde meiner Arbeit nicht noch mit tragikomischen Auftritten – mit Betonung auf Tragik – enttäuschen. Die gab es damals in menschlicher Hinsicht schon jenseits der Lesungen mehr als genug. Es gibt ja diesen Mythos vom Künstler, der mit zunehmendem Konsum von Rauschmitteln aller Art immer besser wird. Wie gesagt, es ist ein Mythos, der auf die wenigsten zutrifft. Auf mich trifft er jedenfalls definitiv nicht zu, ich habe mein bestes Zeug immer nüchtern verfasst. Auch menschlich bin ich ausschließlich nüchtern und abstinent eine verlässliche Person.
Am 16. August diesen Jahres wäre Charles Bukowski 100 Jahre alt geworden. Zu dem Anlass organisiert das WP8 eine Gedenkveranstaltung, in deren Rahmen du liest. Was bedeutet dir persönlich Bukowski? Und: Wirst du auch Texte von ihm vortragen?
Ich werde auch was von ihm lesen, klar. Mein erster Kontakt mit Bukowski war vor dem Bücherregal meines Vaters, der ein paar seiner Arbeiten hatte, irgendwann in den frühen Achtzigern. Ich las und war schwer beeindruckt. Mein Vater sagte dazu mehrfach und ernst, das sei keine Pornographie, sondern es seien Geschichten vom und über das Leben. Als mein Interesse für die so genannte „Alternativliteratur“ dann zunahm, kamen nach und nach all die anderen, teilweise bis heute sträflich unterschätzten Autoren aus der Amiszene: Henry Miller, John Fante, William Burroughs senior und junior, Diane di Prima, Corso, Kerouac, Norse, William Wantling, Patti Smith und, und, und. Wie überall, wo Kunst und Markt sich vermischen, gibt es einige Paradepferde, in deren Schatten manches Juwel verschwindet. Bukowski wurde – wenn auch spät in seinem Leben, aber verdient – ein solches Paradepferd, und als solches nervte er mich immer ein bisschen mit seinen Säufer-Allüren. Ich meine diese Omnipräsenz und Ausschließlichkeit, mit der dieser Aspekt seiner Person medial zelebriert wird. Auch wurde, wie das allerdings immer oder meistens in solchen Fällen ist, posthum bis zum heutigen Tage so ziemlich alles von ihm veröffentlicht, woraus sich irgendwie Profit schlagen lässt. Manches davon war in meinen Augen sehr schwach, was letztlich zur Verwässerung seines Hauptwerks führt. Unterm Strich spielt das natürlich alles keine Rolle, denn er gehört zu den Pionieren und vieles von ihm ist zeitlos hervorragend. Es liegt natürlich im Auge des Betrachters, welche Werke das sind. Ich empfehle aus der gewaltigen Auswahl ganz klar die Romane „Das Schlimmste kommt noch oder fast eine Jugend“ und „Der Mann mit der Ledertasche“ sowie die Kurzgeschichtenbände „Fuck Machine“, „Kaputt in Hollywood“ und „Schlechte Verlierer“. Lyrik benenne ich hier nicht, denn ich verstehe einfach nichts davon. Die allermeiste Lyrik, egal von wem, war mir stets ein großes Rätsel. Ich weiß meistens überhaupt nicht, was das eigentlich soll.
Mitte Juli ist deine neue Erzählung „Rockstar 5.0“ ist bei Killroy media erschienen. Worum geht es darin?
Es geht vordergründig um die tagebuchartigen Aufzeichnungen einer altbackenen Punkrockband auf Deutschlandtour im Jahr 2018, alles fiktiv. Letztlich war diese Basis aber nur ein beliebiges Konstrukt, um in Sachen Gesellschaftskritik voll auf die Kacke zu hauen, im wahrsten Sinne des Wortes. Es war mir schlicht ein dringendes Bedürfnis, vieles, was im Moment und schon seit einigen Jahren in den Medien ausgeschlachtet und, begleitend, von A/B/C-Promis zelebriert wird, auf zynisch-satirische Weise zu kommentieren. Ich habe mit beißendem Spott nicht gespart. Es gibt so vieles, dem wir pausenlos ohnmächtig und hilflos ausgeliefert sind, visuell, akustisch, menschlich, dass es oft kaum auszuhalten ist. Da hilft dann manchmal nur ein Hieb mit dem Vorschlaghammer. Ich denke, das Material wird stark polarisieren, denn anders, als das momentan überall en vogue ist, kriegen nicht nur die Rechten, sondern auch die bescheuerten extremen Linken ordentlich was auf den Sack. Der Band ist wirklich aus Liebe und Hass heraus entstanden. Die Wut und später der Hass hat sich aufgestaut und die Liebe brauchte es, um nicht durchzudrehen, sondern es brav und friedlich aufzuschreiben und so zu transformieren.
Deine letzte Buch-Veröffentlichung, der Kurzprosa- und Gedichtband „Gnadenlos“, liegt mittlerweile sieben Jahre zurück. Damals lebtest du in Köln. Was ist seitdem in deinem Leben passiert?
Es hat sich kontinuierlich zum Guten gewendet. Ich lebe seit fast sieben Jahren abstinent, bin aktiv in der Suchtselbsthilfe unterwegs und habe – ich kann es selbst kaum glauben – die erste klassische Ausbildung meines Lebens absolviert. Ich bin jetzt Mediengestalter mit IHK-Abschluss. Hilft natürlich nichts, nach knapp Hundert erfolglosen Bewerbungen arbeite ich jetzt seit einem knappen Jahr in einer Schulbibliothek. Außerdem sind drei fette Bildbände über West- und Zentralafrika bei Könemann erschienen, bei denen ich die Textregie hatte. Die Fotos stammen von dem Essener Ethnologen Henning Christoph, mit dem ich Afrika bereiste und dessen Lebenswerk in den Büchern vorgestellt wird. Die traditionelle Religion in Schwarzafrika, besonders in Benin, Togo und Nigeria, interessiert mich seit gut zwanzig Jahren. Dank der Ausbildung konnte ich übrigens ein altes Manuskript zu dem Thema selbst druckfertig machen und werde das am 16. August im WP8 auch am Büchertisch anbieten. Schön als Hardcover mit Fadenbindung in limitierter Edition.
Wie lebst du in Leipzig?
In einer – anders als damals in Köln – menschenwürdigen Behausung und ansonsten ganz unspektakulär. Ich bin ruhiger geworden und gelassener. Wenn du so willst, bin ich ein Überlebender, dem das Leben auf eindrucksvolle Weise klargemacht hat, dass wir alle nur für einen kurzen Besuch zu Gast sind. Da ist dann einfach öfter mal Fresse halten angesagt. Was mich natürlich nicht abhält, in diesem Interview wie gewohnt breit zu schwadronieren.
Zumindest in bestimmten Vierteln von Leipzig lässt es sich ja bis heute relativ günstig leben, weshalb schon seit Jahren viele Künstler und Kreative in die Stadt ziehen. Wie erlebst du das kulturelle Angebot?
Leipzig ist aufgrund der teils noch immer relativ günstigen Mietpreise tatsächlich eine junge und lebendige Stadt. Es wird in vieler Hinsicht mehr ausprobiert. Künstler und Initiativen machen einfach mal einen kleinen Laden auf, und wenn es nicht läuft oder sich nicht selbst trägt, lässt man es halt wieder. Also eher spielerisch, was der Kunst an sich gut tut. Anders als in den teils extrem teuren Weststädten muss man in so einem Fall aber nicht gleich Insolvenz anmelden. Das erlebe ich als große Bereicherung. Es gibt diesbezüglich hier und wohl im Osten generell noch einen gewissen Spielraum, so empfinde ich das subjektiv. Ansonsten kriege ich wirklich nicht so viel mit, da kennen sich andere, die viel kürzer hier sind, besser aus. Meine Tochter zum Beispiel. Ich war und bin zum Beispiel noch nie ein großer Ausgeher gewesen. Es gibt ein paar Gebiete, in denen in eine an Besessenheit grenzende Begeisterung entwickeln kann, und vieles andere interessiert mich dafür überhaupt nicht. Das war auch immer schon so. Es isoliert wohl etwas, das ist der Preis. Aber einer der Gründe, nach Leipzig zu kommen, war für mich 2014 tatsächlich der bezahlbare Wohnraum. Wer wenig Geld hat, der kann im Westen nur noch auf dem Land oder im Ghetto leben. Ich war das nach zweieinhalb Jahren auf 14 Quadratmetern in Köln-Neuehrenfeld für 300 Euro absolut satt. Ich habe mir damals auf YouTube immer Dokus über amerikanische Gefängnisse angesehen, das war tröstlich, denn ich konnte immerhin noch raus. Jetzt habe ich zwei Zimmer, 45 Quadrat für 360 Euro warm. Gegend okay, Haus okay. Wo bitte gibt’s das noch in Düsseldorf?
Welche Rolle spielt das Schreiben heute in deinem Leben? Wie viele neue Texte entstehen? Und wie aktiv bist du in Sachen Lesungen?
Ich hatte zuletzt, wie gesagt, viel mit Sachtexten über Afrika zu tun, da war kaum Platz für was anderes. Was die eigenen Texte angeht, nun ja, da überlege ich mir heute schon sehr genau, ob es inhaltlich und qualitativ überhaupt für ein neues Buch langt. Ich will mich weder tausendfach wiederholen noch erlebe ich – wie früher etwa – die Notwendigkeit, jedes Jahr etwas Neues zu veröffentlichen. Letztlich ist das aber auch gut so, denn die geschäftliche Seite kann einem die Freude am kreativen Schaffen komplett kaputt machen. Kills your soul so to say. Ich war zwischenzeitlich – wie viele – völlig ausgebrannt und habe Jahre gebraucht, um überhaupt wieder Spaß am Schreiben zu kriegen. Von daher sage ich jedem, der es wissen oder auch nicht wissen will: Begib dich nach Möglichkeit nicht in die Abhängigkeit, mit Kunst Geld verdienen zu müssen. Denn das ist in der Regel große Scheiße und für gar nichts gut, zu allerletzt für die Kunst. Da wird dann am Ende nur noch in Zielgruppen rein produziert. Und Lesungen? Damit bin ich sehr zurückhaltend geworden. Ich habe, offen gestanden, einfach keine Kraft und Lust mehr, für lau durch die halbe Republik zu eiern, um zwanzig Leuten was vorzulesen, vor allem dann nicht, wenn es sich um alte Kamellen handelt. Oder, noch viel schlimmer, Poetry-Slam-Veranstaltungen, bei denen die Lesezeit dann fünf Minuten beträgt. Das ist einfach nur sinnlos, entwürdigend, anstrengend und für alle unerfreulich. Davon ab, die letzte Prosa kam 2013, davor 2004. Und jetzt halt wieder. Lesungen machen nur Spaß, wenn es auch mal frische Kost für die Ohren gibt. By the way: Jeden Tag erscheinen in Deutschland 300 neue Bücher. Jeden Tag! Es gibt also definitiv schon alles und davon mehr als genug.
Früher hast du ja auch gemalt und natürlich Filme gemacht. Gibt es dahingehend auch noch Aktivitäten?
Also Malerei und Grafik – ja, unbedingt. Aber Film, Gott bewahre, nein. Ich glänzte damals vor allem durch permanentes Overacting und einen überbordenden Narzissmus, weit schlimmer als heute. Vielleicht würde ich nochmal irgendwas machen in der Art, aber da müssten mir Angebot und Rolle schon sehr zusagen. Ich dachte damals, ich sei ein künstlerisches Multitalent, aber das bin ich definitiv nicht.
Wie häufig bist du heute noch in Düsseldorf?
Ich war in den vergangenen 12 Monaten zweimal für mehrere Tage da. Und hatte, ganz unerwartet, ein wirklich schönes Heimatgefühl. Das hatte ich in der Art noch nie.
Und was machst du dann gerne hier?
Ich ging mit meiner Tochter durch die Stadt und zeigte ihr Ecken, in denen ich mich früher aufgehalten habe, in denen ich gewohnt habe und so weiter. Dann war ich mit ihr bei Fine Line, wo ich 1986 mein zweites Tattoo bekommen habe. Viele weitere sollten folgen. Die Jungs bei Fine Line waren 15 Jahre jünger als ich und wollten unbedingt Ralfs Arbeiten sehen. Da habe ich gemerkt: Junge, du bist hier ein Homeboy. Das kann dir keiner mehr nehmen, ob Fine Line, Line Light, Hof oder DIN A Null – das ist Düsseldorfer Geschichte, und keine schlechte. Ich würde ja zurückkommen, wenn die Mieten nicht so elend hoch wären. Ich habe einfach zu wenig Geld, und mir ist meine freie Zeit beziehungsweise Zeit für eigene Projekte zu wichtig, als dass ich noch mehr für das elende, lästige Geld arbeiten wollte. Hospiz-Mitarbeiter berichten übrigens, dass die meisten Menschen in ihren letzten Tagen und Stunden am meisten bedauern, immer so viel gearbeitet und so wenig Zeit mit Familie und Freunden verbracht zu haben. Sollte man öfter man dran denken! Unser Gefühl der Selbstverständlichkeit dem Leben gegenüber ist durchaus besorgniserregend.
16.8., 17 Uhr, WP8, Düsseldorf