Die Corona-Tagebücher #21: Auf ein Foto

Vielleicht war es Einsamkeit, aus der heraus Oliver Siebers Projekt „10 min.“ entstand. Während des Lockdowns im Frühjahr, zu einem Zeitpunkt also, da die persönlichen Kontakte bei den meisten auf ein Minimum reduziert waren, bat der Fotograf Menschen aus seinem persönlichen Umfeld um zehn Minuten ihrer Zeit. Auf ein Foto. Aus den nächtlichen Verabredungen an x-beliebigen Häuserecken ist nun ein Künstlerbuch entstanden. theycallitkleinparis hat mit Sieber über sein Projekt und das Corona-Jahr 2020 gesprochen.

Oliver Sieber, Foto: Katja Stuke

Der erste Lockdown im Frühjahr 2020 war für viele Menschen ein Schock, weil völliges Neuland. Wie war das bei dir?
Meine Freundin Katja und ich waren kurz vor Beginn des Lockdowns noch in Italien, um eine Ausstellung zu eröffnen. Wenig später wurde dort alles dicht gemacht. In Düsseldorf haben wir dann mit Sabine Maria Schmidt die Ausstellung „Geheime Agenten“ im Künstlerverein Malkasten aufgebaut. Zu dem Zeitpunkt haben wir noch gehofft, dass Corona an uns vorbeizieht. Leider ist es dann anders gekommen.
Das Leben von Katja und mir dreht sich um Fotografie, Kunst, Ausstellungen machen und besuchen. Es war ganz schön abstrakt, dass quasi um die Ecke Tausende von Menschen starben und in Trucks der Armee zum Friedhof gefahren wurden. Da wäre es schon ziemlich absurd gewesen, hier um ein ausgefallenes Fotofestival zu trauern. Die Dinge haben sich sehr schnell relativiert. Was mir nach wie vor Angst macht, ist diese Fragilität, wie alles zusammenhängt. Und was passiert, wenn die Dinge aus der Balance geraten.

Welche Pläne für 2020 musstest du canceln, was Projekte, Reisen und sonstiges betrifft?
Die Eröffnung für eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn musste verschoben werden, eine Ausstellungseröffnung in Liverpool konnte ich nicht persönlich sehen, ein Vortrag in einer Ausstellung in Bologna fiel aus. Und die „ANT!FOTO Bar“ konnten Katja und ich auch nicht mehr regelmäßig öffnen. Wir haben stattdessen dann ein Magazin gemacht. Reisen waren dieses Jahr bei uns sowieso nicht groß geplant. Katja und ich hatten 2019 ein Projekt in Paris begonnen, das wir gerade im Ruhrgebiet weiterführen. Die meisten Messen sind natürlich ausgefallen. Ausstellungen werden zurzeit aufgebaut, aber nicht eröffnet… Soll ich noch mehr aufzählen?

Wie hat sich die Ausnahmesituation auf deine künstlerische Arbeit ausgewirkt?
Im Frühjahr fühlte sich im Grunde alles wie immer an. Erstaunlich, zu begreifen, wie anders das Leben ist, das man als Künstler führt. Unregelmäßigkeiten sind unser Alltag und wenig ist vorhersehbar. Während des Lockdowns hat die Ruhe den Zug rausgenommen, die Arbeit war sehr konzentriert. Etwa vergleichbar mit einem Residenzprogramm, bei dem man sich einige Monate ausschließlich auf seine künstlerische Arbeit konzentrieren kann. Viele haben ja gesagt, der Lockdown war zu kurz. Das habe ich auch so empfunden. Im Gegensatz dazu erleben wir den aktuellen Lockdown mit dem Gefühl, anderen beim Leben zuzuschauen, aber selbst nicht mitspielen zu dürfen.

Rene, Foto: Oliver Sieber

Es gibt einige Fotografierende, die die Idee hatten, die leere Stadt abzulichten. Du hingegen hast dich dafür entschieden, Menschen zu fotografieren und ihnen jeweils Gegend gegenüberzustellen, das kann eine Häuserecke sein, die Durchfahrt zu einem Supermarkt oder Kopfsteinpflaster. Welche Idee steckt hinter dem Projekt „10 min.“, das jetzt als Künstlerbuch vorliegt?
Während des Lockdowns im Frühjahr fanden ja quasi gar keine echten Kontakte mehr statt. Ich habe Leute, an die ich gedacht habe, spontan kontaktiert und gefragt, ob sie kurz abends Zeit hätten „auf ein Foto“. Zehn Minuten schienen mir eine sichere Zeiteinheit, und mit Abstand draußen fühlte es sich okay an. Die Stimmung in der Stadt war damals sehr speziell. Jeder hatte Zeit, und manchmal wurde aus den geplanten zehn Minuten auch ein Stündchen. Im Grunde ging es ja nicht nur um das Foto. Es war aber auch nicht nur ein Vorwand, ich mag den Begriff der Geste.

Wer sind die Menschen, die du für das Projekt fotografiert hast?
Alte Freunde, die eigentlich immer zu viel zu tun haben, um sich mal in Ruhe zu treffen, Künstler:innenkollegen, die Töchter meiner Cousine, Musiker:innen, Menschen aus der Nähe.

Wie war es für dich, diese Menschen mitten im Lockdown zu treffen?
Ich hab mich sehr über die abendlichen Treffen gefreut. Alle Fotografierten sind recht sensible Persönlichkeiten. Es gab interessante Gedanken, aber auch Unausgesprochenes war interessant. Ich habe noch mal anders über mein Verhältnis zur Stadt nachgedacht. Ich bin ja in Düsseldorf geboren und verbinde mit vielen Orten und Dingen Assoziationen. Als ich zum Beispiel an der abgerissenen Brause vorbeigefahren bin, habe ich mich an eine Frau erinnert, die ich lange nicht gesehen hatte. Ich habe sie dann angerufen und abends getroffen.

Foto: Oliver Sieber

Wo hast du die Leute fotografiert?
An irgendeiner Straßenecke unweit der Wohnungen der Fotografierten. Die Atmosphäre war in dem Moment des
Treffens sehr ungewöhnlich, deshalb bin ich 28 Tage später nochmal zu denselben Orten gefahren, um zu vergleichen, wie es sich dann anfühlte. Bei diesem zweiten Ortsbesuch sind die schwarz-weißen Aufnahmen entstanden, die ich den Porträts im Künstlerbuch gegenüberstelle. Meine Gedanken zum Verhältnis Nacht/Tag, Positiv/Negativ, Fotografie/Erinnerung. Nacht ist immer etwas Besonderes gewesen, viel mehr als nur die Negation von Tag. Und das Negativ, ist das nicht vielleicht das Original, das eigentlich als das Positiv zu betrachten ist? Ist die Verbindung von Fotografie und Erinnerung etwas, das mich mehr interessieren sollte?
Ich bin zu einem vereinbarten Punkt in Essen gefahren, um jemanden zu treffen und nach Köln. Zu diesen Orten hatte ich vorher gar keine Beziehung. Durch plausible Verknüpfungen irgendwohin zu gelangen, wo ich im Traum vorher nicht dran gedacht hätte, ist toll. Eine Art Dérive (revolutionäre Strategie, Die Red.). Ich frage mich schon, wie die Gedanken Guy Debords (französischer Autor, Filmemacher, Künstler und Revolutionär, Die Red.) in Zusammenhang mit der jetzigen Situation stehen könnten.

Wo ist das Buch in Düsseldorf zu bekommen?
Katja und ich veröffentlichen unsere Künstlerbücher meistens im Rahmen unseres Publikationsprojekts „Böhm Kobayashi“. Seit Kurzem haben wir einen Online-Shop für diese Publikationen und Editionen, den wir nach und nach befüllen. In Düsseldorf kann man das Buch aber zum Beispiel auch in der Buchhandlung Walther König bekommen. Und Suzusan hat in seinem neuen Flagshipstore eine kleine Abteilung für Publikationen und Platten.

Was wünschst du dir für 2021?
Struktur und Ordnung, Weltfrieden und dass dieser ganze Schlamassel ein gutes Ende nimmt.

Das Künstlerbuch „10 min.“ kann hier bestellt werden.

In dieser Reihe bereits erschienen:

Die Corona-Tagebücher #1: Solidarische Nachbarschaft Düsseldorf

Die Corona-Tagebücher #2: It’s oh so quiet

Die Corona-Tagebücher #3: Falsche Verknüpfungen

Die Corona-Tagebücher #4: Vom Geben und Nehmen

Die Corona-Tagebücher #5: Der Radius wird kleiner

Die Corona-Tagebücher #6: Kunst & Quarantäne

Die Corona-Tagebücher #7: Hausmusik

Die Corona-Tagebücher #8: In die Leere

Die Corona-Tagebücher #9: Virologen-Merchandise

Die Corona-Tagebücher #10: Was heißt hier sofort?

Die Corona-Tagebücher #11: Unfrisur

Die Corona-Tagebücher #12: Was heißt hier sofort? (2)

Die Corona-Tagebücher #13: Fußmatten-Genießertresen

Die Corona-Tagebücher #14: Unter erschwerten Bedingungen

Die Corona-Tagebücher #15: Hilft Humor?

Die Corona-Tagebücher #16: Yoga der Ungelenken

Die Corona-Tagebücher #17: Persönliche Einblicke

Die Corona-Tagebücher #18: Jenseits der Grenze

Die Corona-Tagebücher #19: Hier spricht der Gastronom

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