Der Journalist Christoph Soltmannowski hat zusammen mit Nicolas Yves Aebi (Kamera) und Sven Prausner (Schnitt) einen Film über den Zürcher Kreis 4 gemacht, ein Quartier, das viele Gemeinsamkeiten mit Oberbilk aufweist. Auch der Projektansatz des Trios aus Zürich ist dem des geplanten Buchs „Oberbilk. Hinterm Bahnhof“ von Markus Luigs und Alexandra Wehrmann nicht ganz unähnlich. Grund genug für theycallitkleinparis, Soltmannowski ein paar Fragen zu stellen.
Christoph, was macht den Zürcher Kreis 4 aus? Und wie hat sich das Quartier im Laufe der Zeit entwickelt respektive verändert?
Der Zürcher Kreis 4 ist das ehemalige Arbeiterquartier der Stadt. Seit 100 Jahren wohnen dort viele Ausländer:innen, vor allem aus Italien und Spanien, die als Gastarbeiter:innen in die Schweiz kamen. Zudem wurde es das Rotlichtquartier und seit rund 15 Jahren immer mehr zur trendigen Ausgehmeile mit angesagten Galerien, Clubs und Bars. Wie Historiker Hannes Lindenmeyer am Anfang des Films sagt: „Es ist der unschweizerischste Ort der Schweiz“. Die Schweiz gilt ja sonst eher als idyllisch, bieder und beschaulich – und als nicht sehr urban. Im Chreis Cheib ist alles anders.
Wie entstand die Idee zu dem Film?
Sehr spontan. Mir bot sich die Gelegenheit, die Räumlichkeiten einer ehemaligen Galerie als Zwischennutzung zu mieten. Ich habe dann gleich Nicolas Aebi mit dazu genommen. Er ist eigentlich Fotograf und ich kenne keinen, der so gut mit den verschiedensten Menschen umgehen kann wie er. Dann haben wir überlegt, was wir hier noch tun könnten. So entstanden die ersten Kurzporträts. Anschließend führte eins zum anderen.
Ihr nähert euch dem Viertel über die Menschen, die dort leben. Warum habt ihr euch für diese Herangehensweise entschieden?
Das Quartier definiert sich klar durch die grundverschiedenen Menschen, die hier auf engem Raum zusammenleben.
Für den Film habt ihr mit 59 von ihnen, die im Kreis 4 leben und arbeiten, gesprochen. Was sind das für Leute?
Im Kinofilm sind es 59 – aber insgesamt werden es letztlich noch mehr sein, denn „Cheibe Zürcher“ soll nicht nur ein Kinofilm, sondern auch eine Online-Plattform sein. Das Spektrum der Menschen, die wir getroffen haben, ist sehr breit: von der Boxmeisterin bis zum Türsteher, vom Geistlichen bis zum Freier. Außerdem ist ein Anwalt der Hells Angels dabei, ein Kripobeamter, der schon 12.000 Leute verhaftet hat, eine Hundesalonbesitzerin, ein Promifriseur, aber auch ein Busfahrer.
Wie habt ihr eure Protagonist:innen gefunden?
Praktisch vor der Haustür. Einer führte zum nächsten. Nicolas Aebi arbeitet seit 25 Jahren als Fotograf für verschiedene Zürcher Zeitungen und hat von daher schon ein riesiges Netzwerk. Ich bin seit über 30 Jahren als Journalist tätig. Zusammen kennen Nicolas und ich wohl halb Zürich.
Was mögen die Menschen, mit denen ihr gesprochen habt, an ihrem Viertel? Und was gefällt ihnen weniger?
Eigentlich lieben alle das Quartier. Sie mögen die Vielfalt und das Unkonventionelle. Klar, gibt es auch Unschönes. Und natürlich steigen die Wohnungsmieten, weil das Quartier als hipp und trendig gilt.
Nach allem, was man über den Kreis Cheib lesen kann, klingt es so, als wäre dort ein Aufwertungs- und Verdrängungsprozess im Gange, wie man ihn auch aus anderen Städten kennt. Wie bewerten eure Protagonisten den?
Ja, die Gentrifizierung spielt auch hier. Dazu gibt es ja bereits den sehr guten Film von Thomas Hämmerli „Die Gentrifizierung bin ich“. Dieses Thema stand für uns allerdings nicht so sehr im Zentrum, uns ging es mehr um einzelne, verschiedene Menschen, die alles Mögliche erzählen.
Wie sind in dem Zusammenhang die Reaktionen auf eure Filmidee? Haben die Bewohner:innen des Kreis 4 Angst, dass ein derartiges Projekt die Gentrifizierung noch zusätzlich befeuern könnte?
Das haben wir so von niemandem gehört. Wir romantisieren ja nichts, stellen es so dar wie es ist, bringen auch die Schattenseiten, ohne zu plakativ auf Sex, Crime, Drogen oder Stadtpolitik einzugehen.
Euer Cutter Sven Prausner ist selbst im Quartier als DJ aktiv. Wie ist deine Beziehung zum Kreis 4?
Ich habe neun Jahre mit meiner Frau und unserem Sohn im Viertel gewohnt und bin jetzt mit meinem Pop-Up-Studio vor Ort, wo ich vor allem Videopodcasts produziere. Ich mag grundsätzlich Orte, die etwas verrucht, nicht durchreglementiert und durchdesignt sind und Freiraum und Toleranz für Ausgefallenes und Unkonventionelles lassen. Ich denke, Sven, der aus Berlin kommt, und Nicolas sehen das ähnlich.
Ihr zeigt die Menschen in Schwarz-Weiß. Wieso habt ihr euch dafür entschieden?
Nicolas würde sagen, es hat einen Touch von Film Noir. Die Reduktion auf Konturen und Schatten gibt mehr Dramatik, Gewicht und mehr vom Charakter preis, weil die Farben nicht ablenken.
Wie lange habt ihr an dem Film gearbeitet?
Wir haben im Sommer 2019 angefangen, im Dezember 2020 war der Film dann fertig. Wegen der Covid-19-Einschränkungen müssen wir aber wohl oder übel mit der Premiere noch warten. Deshalb starten wir jetzt mit einem Podcast und veröffentlichen einzelne Interviews schon mal als Appetitmacher online.
Ihr habt ja unglaublich viel Material zusammengetragen. Wie lang ist der Film geworden?
Er dauert 110 Minuten. Material hätten wir sogar für drei Stunden.
Wo wird der Film zu sehen sein?
Wir sind mit Filmverleiher:innen im Kontakt. Ganz sicher werden wir ihn aber mitten im Quartier an der berühmt-berüchtigten Langstraße im ehemaligen Porno-Kino Roland zeigen. Immer donnerstags, nonstop, wie früher die Sexfilme, und vielleicht auch mit Rahmenprogramm. Die Betreiberin des Kinos kommt ja selbst in „Cheibe Zürcher“ vor.
Eure Protagonisten sprechen Schwytzerdütsch. Plant ihr Untertitel?
Also offenbar geht das Interesse an dem Projekt ja sogar über die Landesgrenzen hinaus, was uns überrascht und freut. Dann werden wir das unbedingt tun.
Werdet ihr das Material, das ihr zusammengetragen habt, auch anderweitig verwerten? Was gibt es da für Pläne?
Ja, online, auf Social Media und vielleicht interessiert sich auch das Fernsehen. Zudem planen wir Quartierführungen und einen Merchandising-Shop mit Tassen, T-Shirts und Kondomen. Wir haben den Film ja ohne jegliche Unterstützung, ohne Förderbeiträge oder Crowdfunding gemacht und hoffen jetzt, auf diese Weise noch etwas Geld reinzubekommen.
Du selbst bist in NRW geboren, in Wuppertal. Bist du noch regelmäßig in der Region? Und kennst du zufällig den Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk?
Ich war vier Jahre alt, als ich mit meinen Eltern in die Schweiz zog. In Wuppertal bin ich alle paar Jahre mal, weil dort noch Verwandte wohnen. Oberbilk kenne ich nicht. Das Viertel interessiert mich aber sehr. Meine Verbindung zu Düsseldorf ist Kraftwerk, das sind die absoluten Idole meiner Jugend. Als Journalist hatte ich 2019 das Glück, Ex-Kraftwerk-Drummer Wolfgang Flür beim „Montreux Jazz Festival“ kennen zu lernen – und mit ihm auch Markus Luigs. Ich plane, in Zürich eine Performance von Wolfgang Flür zu organisieren, die konnte wegen Corona bisher aber nicht stattfinden.