Der Kölner Street Artist seiLeise zeigt seine Kunst schon seit jeher unter freiem Himmel. Während des Corona-Lockdowns hat er nun die „Bildersuche“ erfunden. Auf einem 19 Kilometer langen Abschnitt zwischen dem Kölner Skulpturenpark Stammheim und der Severinsbrücke lädt er zu einer Schnitzeljagd in Sachen Kunst ein.
Selber suchen
An einem schönwettrigen Samstag bin auch ich eine Bildersuchende. Ich stehe am Rheinufer in Köln-Mülheim, unterhalb der Kirche St. Clemens, und schaue auf den großen Strom. Unweit von hier verläuft die Straße „Mülheimer Freiheit“ und tatsächlich liegt ein Hauch von großer Freiheit über der Szenerie. Als wäre das Meer direkt um die Ecke! Ein schwer beladenes Containerschiff schiebt sich in Zeitlupe flussaufwärts. Nahe dem Ufer schreit sich eine Horde Möwen die Seele aus dem Leib. Darüber steuert der Himmel das Seinige zu einem gelungenen Tag bei: Er ist strahlend blau, die Luft klar und kalt. Am Rheinufer sind zahlreiche Menschen unterwegs. Radelnd. Joggend. Spazierend. Oder skatend. Bildersucher*innen sind vorerst noch nicht auszumachen. Ich unterquere die Mülheimer Brücke und lasse die Blicke erwartungsfroh umherschweifen. „Scheiß CDU“ hat da jemand hinterlassen, drumherum die üblichen Tags und Schmierereien.
Türöffner zur Subkultur
Auch Tim Ossege hat so einmal angefangen. Lang, lang ist’s her. Als Jugendlicher kam der Domstädter mit Graffiti in Berührung: „Das war für mich der Türöffner zur Subkultur.“ Er sei allerdings weder besonders talentiert noch ehrgeizig genug gewesen, am Ball zu bleiben, daher sei das Ganze zunächst ein kleiner Exkurs geblieben. Nach der Schule studierte Ossege Grafikdesign, kam aber schnell zu der Erkenntnis, in der Branche nicht arbeiten zu wollen. Zu dem Zeitpunkt „habe ich die Subkultur und ihre Ideale für mich wiederentdeckt und den Weg zur Street Art gefunden“. Heute ist der öffentliche Raum für ihn Leinwand und Lebensraum seiner Arbeiten zugleich. Dennoch passiert der erste Schritt meist im Atelier. Dort bringt er seine Motive mit Hilfe von Schablonen auf Papier und schneidet sie aus. Erst im Anschluss zieht er los, um sie mit Tapezierpinsel und Kleister auf Mauern, Brückenpfeiler oder Stromkästen aufzubringen. Paste-Up heißt die Technik. In Köln ist Ossege meist rechtsrheinisch unterwegs – auf der sogenannten „Schääl Sick“. Und auch außerhalb der Domstadt findet man künstlerische Spuren von ihm. „Wo es mich hintreibt, lasse ich Bilder zurück“, sagt er. In Hamburg zum Beispiel, in Porto, London und Bordeaux. Aber auch in Bielefeld. Auf Urbanana-Gebiet ist er neben Köln gelegentlich in Düsseldorf aktiv. Auf der Apollinarisstraße im Stadtteil Oberbilk findet sich beispielsweise ein Werk von ihm, aber, wer weiß, vielleicht ist es bald schon verschwunden. „Meine Arbeiten sind vergänglich“, weiß der Künstler. „Sie sind immer nur Momentaufnahmen.“
Sich auf die Suche einlassen
Die Idee zur „Bildersuche“ entstand während des Lockdowns, als sämtliche Museen geschlossen waren und der Kunsthunger dementsprechend groß. Auf einer Route zwischen Skulpturenpark Stammheim und Severinsbrücke kann man sich seitdem auf die Spur von seiLeise begeben. 19 Kilometer misst die komplette Strecke, etwa 7 der Kernabschnitt zwischen Opalturm und Zoobrücke – notwendige Schlenker nicht eingerechnet. Auf einem von Ossege gefertigten Übersichtsplan, den man auf seiner Facebook-Seite findet, lässt sich die Route nachvollziehen, auch die ungefähren Standorte der papiernen Kunstwerke sind markiert. Den Rest müssen die Bilderjäger selbst erledigen, findet der Künstler, das sei schließlich Teil des Spiels. „Ich denke, es ist kontraproduktiv, genau zu wissen, wie viele Arbeiten zu finden sind“, so Ossege. Manche Besucher hätten ein Erfolgserlebnis, wenn sie fünf Bilder finden. „Wenn man aber weiß, dass es auf den 19 Kilometern bis zu 25 zu finden gibt, ist man vielleicht enttäuscht, obwohl man eigentlich einen schönen Tag am Rhein hatte.“ Wer mit der Erwartungshaltung, ein Erlebnis vorgekaut und verdaut serviert zu bekommen, an die Sache herangehe, der werde vermutlich enttäuscht werden, warnt der seiLeise: „Man kann sich auf die Suche einlassen – oder man bleibt zu Hause.“
Vom Vandalismus des Vandalismus
Ich bin nicht zu Hause geblieben, sondern mittlerweile den Rhein flussaufwärts geschlendert. Unweit des sogenannten Katzenbuckels, einer Fußgängerbrücke, die die Einfahrt zum Hafenbecken überspannt und das Mülheimer Rheinufer mit dem Jugendpark verbindet, erspähe ich an einer Mauer, halb verdeckt von einem parkenden LKW die erste Arbeit: ein Mädchen mit Kleisterpinsel und dem für die Corona-Zeit typischen Mund-Nasen-Schutz. Das bereits aufgebrachte Plakat, das ursprünglich Teil von Osseges Arbeit war, ist allerdings verschwunden, auch der Pinsel der Figur ist nicht mehr vollständig. Beschädigung und Zerstörung sind Teil seines Geschäfts, weiß der Künstler. „Einmal an die Luft gelassen, habe ich keinen Einfluss auf Verbleib und Haltbarkeit der Arbeiten. Betrachte ich auch nicht als meine Aufgabe.“ Manchmal ist es das städtische Entsorgungsunternehmen AWB, das seine Bilder beseitigt. Oft sind es aber auch Fans, die einen echten seiLeise mit nach Hause nehmen möchten. Und natürlich gibt es auch Fälle von mutwilliger Zerstörung: „Wenn man denn vom Vandalismus des Vandalismus sprechen möchte.“ Von Zeit zu Zeit zieht Tim Ossege los, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Die verschwundenen oder zerstörten Arbeiten kennzeichnet er in seinem Übersichtsplan mit einem kleinen Kamera-Icon.
Zauber des Zaunkönigs
Zwischen dem Katzenbuckel und der Zoobrücke stoße ich bei meiner Stippvisite in Köln auf eine Reihe weiterer seiLeise-Werke. Um das Bildersuchen für Nachahmer*innen nicht witzlos zu machen, verzichte ich hier allerdings bewusst darauf, Zahlen zu nennen oder exakte Standorte zu verraten. Nur so viel: Ich traf das Mondmädchen, beobachtete den Fuchs mit der gelben Blume im Maul und verfiel dem Zauber des gekrönten Zaunkönigs. In der Regel sind politische und gesellschaftliche Themen unserer Zeit die Impulsgeber für die Kunst von seiLeise. Ausnahmen bestätigen die Regel: „Hin und wieder rutschen auch rein gefällige Motive dazwischen, die keine tieferen Aussagen beinhalten.“ Unter den Werken, die ich entdeckte, waren letztere in der Überzahl. Mein Walk endete an der Zoobrücke, unweit von einem der berühmtesten Technoläden im Lande, dem Bootshaus, das derzeit wie alle anderen Clubs in tiefem Schlaf liegt. Wer diese Stelle als Ausgangspunkt der „Bildersuche“ nehmen möchte, kann das natürlich auch tun und im Anschluss den Rhein flussabwärts spazieren – bis zu St. Clemens, oder weiter zum Opalturm beziehungsweise dem Skulpturenpark Stammheim. Der Versorgungsstationen seien an dieser Stelle zwei genannt: Das Anker 7 an der Hafenstraße hält neben Heiß- und Kaltgetränken aller Art auch Waffeln und warme Gerichte bereit. Und das Café Jakubowski ist ohnehin längst eine Institution im Veedel und versorgt seine Gäste mit allem, was der Magen begehrt. Es liegt übrigens keine 100 Meter vom Rhein entfernt. An der Mülheimer Freiheit.
Dieser Beitrag ist für das Blog urbanana.de entstanden.