Am 1. August vor 34 Jahren ging MTV Europe auf Sendung. Der Siegeszug des Musikvideos begann. Waren die kurzen Clips anfangs noch häufig Werbefilmchen mit den Bands als Protagonisten, sind sie mittlerweile längst eine eigene Kunstgattung geworden. Die Medienkulturwissenschaftlerin Kathrin Dreckmann hat vor Kurzem das Buch „Musikvideo Reloaded“ herausgegeben. Darin geht es um historische und aktuelle Bewegtbildästhetiken zwischen Pop, Kommerz und Kunst. theycallitkleinparis hat mit der Wissenschaftlerin gesprochen.
Am 1. August 1987 ging MTV Europe auf Sendung. Hast du eine Erinnerung an den Moment beziehungsweise an diese Zeit?
Da ich auf dem Land aufgewachsen bin, haben wir erst in den 1990er Jahren Musikfernsehen empfangen. Ich weiß noch, wie sehr es meine Wahrnehmung von Pop verändert hat. Zwar war ich im Besitz von CDs, Starschnitten und Zeitschriften, aber dass es ab dann auch eine neue Bewegtbildästhetik im Clipformat gab, war absolut faszinierend. Wir haben damals über Stunden das Programm laufen lassen, über unsere Lieblingsvideos gesprochen, mitgesungen und auch getanzt.
Welches ist das erste Musikvideo, an das du dich bewusst erinnern kannst?
Michael Jacksons „Thriller“.
Mit dem Start von MTV beziehungsweise MTV Europe begann die Hochzeit der Videoclips. Wie hat sich die Gattung Video in den knapp 35 Jahren, die seitdem vergangen sind, verändert?
Der Tod des Musikfernsehens ist ja in der Forschungsliteratur um etwa 2004 datiert worden. Eine Renaissance des Musikvideos setzte mit dem Internet ein – plötzlich wurde wieder sehr viel Geld für die Produktion von Musikvideos ausgegeben. In der Forschung wird oft das Musikvideo „Gangnam-Style“ von Psy als Zäsur genannt. Ich sehe vor allem die Möglichkeit, kostengünstig hohe Datenvolumina auf das Handy zu ziehen und die Mobilität des Handys – ob in der Bahn, auf dem Weg zur Uni oder zur Arbeit – als eine Wende, da dadurch Musik mit Bild verbunden werden konnte und sich eine neue Rezeptionshaltung etabliert hat. Nicht nur das Hören von Musik, sondern auch Videos unterwegs anzuschauen, ist möglich geworden. Bemerkenswert ist eben auch, dass Streamingdienste wie Spotify oder Apple Music nicht nur Musiklisten anbieten, sondern das Musikvideo gleichsam auf dem mobilen Screen gezeigt wird. Plötzlich ist nicht mehr nur die Musik, sondern auch das dazugehörige Bild sehr wichtig. Aktuelle wunderbare Beispiele für eigene neue Kunstformen als Clip sind die Arbeiten von Janelle Monáe, The Carters oder Lady Gaga.
Du hast unter dem Titel „Musikvideo reloaded“ vor Kurzem ein Buch herausgegeben. Welche Aspekte des Themas stehen dabei im Vordergrund?
Es geht genau um die Frage, was sich durch die neuen Rezeptionsbedingungen auch auf der Produktionsebene verändert hat. Musikvideos sind heute kleine Kunstwerke, die sich mit aktuellen politischen Diskursen in Verbindung bringen lassen. Bewegungen wie #metoo oder #blacklivesmatter haben sicher auch einen Teil dazu beigetragen, dass neben medienhistorischen Zitationsverfahren politische Positionen in den aktuelleren Clips behandelt werden. So werden zum Beispiel in den Videos von Janelle Monáe neben Zitaten aus Fritz Langs „Metropolis“ Bezüge zum Afrofuturismus Sun Ras hergestellt. Gleichzeitig stellt Monáe aus der Perspektive einer schwarzen queeren Frau das Thema weiblicher Selbstermächtigung in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten. Es geht in dem Band also darum, die spezifischen Medienästhetiken des Musikvideos herauszuarbeiten, die sich von denjenigen der 1980er Jahre unterscheiden.
„Musikvideo reloaded“ ist eine Sammlung von Texten unterschiedlicher Autor:innen. Wer ist da zum Beispiel dabei? Und wie sind die beruflichen Hintergründe der Schreibenden?
Das Besondere an diesem Buch ist, dass die Pioniere der Musikvideoforschung wie Peter Weibel vertreten sind, der 1987 zusammen mit Veruschka Bódy den Sammelband „Clip, Klapp, Bum: Von der visuellen Musik zum Musikvideo“ herausgegeben und in dem auch Dieter Daniels einen wegweisenden Beitrag verfasst hat. Diese Sammlung von innovativen Aufsätzen stellt eine der ersten Beschäftigungen mit dem Musikvideo dar, die es konsequent zwischen Pop, Video, Kommerz und (Medien-)Kunst eingebettet hat. Das war um 1987 nicht selbstverständlich, wie viele andere Publikationen aus der Zeit zeigen: Denn in der Regel wird gerade in den frühen Sammelbänden eine kulturkritische Perspektive auf das kulturindustrielle Produkt eingenommen.
Denn das Musikvideo galt in der Forschung als Werbeclip, der nur das Musikstück illustrieren würde und zum Plattenkauf anregen sollte. Es als eigene Kunstform zu betrachten, war damals ein Novum. Weibel und Daniels setzen in meinem Buch nun neu an und reflektieren das Musikvideo erneut mit Blick auf seine neuen medientechnischen Bedingungen. Außerdem ist erstmalig ein Text der international renommierten Musikvideoforscherin Carol Vernallis auf Deutsch zu lesen. Ihr Verdienst ist es, dass sie besonders prominent in den vergangenen Jahren das Musikvideo als Kunstform herausgearbeitet hat. Ihr gesamtes Werk ist bisher nur auf Englisch zu erhalten und sie ist in Deutschland nur wenigen Expert:innen bekannt. Außerdem sind einige Autor:innen dabei, die gerade an ihrer Dissertation zu dem Thema arbeiten. Vor allem die Beziehungen des Musikvideos zwischen (Medien-)Kunst und Kommerz sind ein Schwerpunkt in fast allen Beiträgen.
Du selbst hast einen Beitrag unter der Überschrift „Notes on pop“ verfasst. Worum geht es darin?
Ich beziehe mich auf den Aufsatz „Notes on camp“ von Susan Sontag, in dem es um einige wichtige Positionen im Pop im Zusammenhang mit „campy“ Ästhetiken geht. Ich analysiere vor allem den Auftritt Janelle Monáes bei der MET-Gala 2019, wo sie sich in einem surrealistischen Outfit von Christian Siriano zeigte. Das Outfit enthält viele Referenzen aus der Kunst. Genau diese Ästhetik ist stilbildend für ihre Videoarbeiten. Bemerkenswert sind sie, weil sie Hybridisierungsprozesse zwischen Kunst und Kommerz mit einem Moment des Female Black Empowerment verbindet und ihr Werk in der Tradition von David Bowie, Michael Jackson und Prince steht. Monáe reflektiert in ihren Videos auf sehr gelungene Weise die Produktionsprozesse von gutem Pop und bezieht sich selbst immer wieder auf den Diskurs.
Das Buch ist in der Reihe „acoustic studies“ erschienen, die du im Jahr 2013 gemeinsam mit Dirk Matejovski begründet hast. In der Reihe werden Sammelbände und Monografien zu aktuellen medien- und kulturwissenschaftlichen Diskursen der Sound und Acoustic Studies publiziert. Richten sich die Publikationen ausschließlich an eine Leserschaft, die sich wissenschaftlich mit den Themen auseinandersetzt?
Nein, überhaupt nicht. Vor einiger Zeit haben wir ein Buch zu Kraftwerk herausgebracht, das sich natürlich sehr gut verkauft hat und ein breites Publikum außerhalb der Wissenschaft fand. Im Oktober wird der vierte Sammelband erscheinen unter dem Titel „Jugend, Musik, Film“: Darin geht es um interdisziplinäre Debatten über das Verhältnis von Jugendkulturen und aktueller digitaler Medienrezeptionen. Der fünfte Band fragt nach dem Verhältnis von neuen digitalen Technologien und dem Komplex der akustischen Überwachung. Eine zweite Auflage unseres bereits vergriffenen Kraftwerkbandes ist in Bearbeitung und für das nächste Jahre sind Bände geplant zu Gender, Pop und Medien, zu historischen Soundkulturen in der Bundesrepublik und mit medientheoretischen Analysen zum Phänomen TikTok. Ich glaube und weiß, dass wir eine breite Leserschaft haben.
Angenommen, du solltest jemandem, der/die noch nie ein Musikvideo gesehen hat, drei Clips empfehlen. Welche wären das? Und warum?
„The Chauffeur“ von Duran Duran, da das Musikvideo eine outrierte 1980er Jahre-Ästhetik abbildet, die sich selbst zersetzt und auflöst, weil sie visuelle Stereotype inszeniert, die aber von innen korrodieren – es zeigt die innere Auflösung des männlichen Blicks. „Smack my bitch up“ von The Prodidy: Es handelt sich um ein Video, das Maßstäbe gesetzt und einen Blickdiskurs in Gang gebracht hat. „Dirty Computer“ von Janelle Monaé und dann das ganze Album. Es ist ein wahnsinniges Werk, das Postgender-Debatten, Theorien zum Posthumanismus und zur Queer Theory ästhetisch verknüpft.
Anderes Thema: Gemeinsam mit deiner Kollegin Verena Meis bildest du seit sechs Jahren das Qualleninstitut, das es sich zur Aufgabe gemacht, das oft übersehene Potential der wässrigen Wesen offenzulegen. Gibt es diesbezüglich Pläne für die nahe Zukunft?
Ja, wir sind gerade dabei, eine Publikationsreihe mit dem Titel „Fluid Media Studies“ bei dem Verlag De Gruyter auf den Weg zu bringen und unser erstes Buch in dieser Reihe wird Anfang nächsten Jahres erscheinen.
Zur Person
Kathrin Dreckmann hat Germanistik, Geschichte, Philosophie und Sprachwissenschaft, promoviert hat sie im Fach Medienkulturwissenschaft im Feld der Acoustic Studies, also über die Speicher- und Übertragungsgeschichte akustischer Medien vom Grammophon bis zum Rundfunk der Nationalsozialisten. In ihren aktuellen Forschungen setzt sie sich mit Fragen im Zusammenhang mit Class, Race und Gender in aktuellen Bewegtbildästhetiken und ihren Genealogien auseinander.
29.9.-1.10. Musikvideos und Transkulturalität. Manifestationen sozialer Utopien, Filmwerkstatt, Düsseldorf