Als Daša Martin vor anderthalb Jahren an den Rhein zog, kam sie aus einer besseren Welt. In Wien, wo die gebürtige Slowakin vorher mit ihrer Familie gelebt hatte, betrug ihre monatliche Miete ungefähr die Hälfte von dem, was sie heute in Düsseldorf bezahlen muss. Während der Anteil an Sozialwohnungen am gesamten Mietwohnungsbestand in Düsseldorf gerade einmal 4,4 Prozent beträgt, kann die österreichische Hauptstadt in Sachen Sozialer Wohnungsbau auf eine hundertjährige Tradition zurückblicken. Die Mehrzahl der Wiener lebt in einer geförderten oder kommunalen Wohnung. Was also kann Düsseldorf von Wien lernen?
Im Herbst 2019 zog Daša Martin gemeinsam mit ihrem Mann und den beiden Kindern nach Oberbilk. Damals kannte die 33-Jährige das Quartier hinter dem Bahnhof ebenso wenig wie den Rest der Stadt. Zehn Jahren lang hatten sie gemeinsam in Wien gelebt. Dann fand ihr Mann in Düsseldorf einen neuen Job. „Als die Zusage kam, war ich gerade hochschwanger mit unserem Sohn“, erzählt Daša. An Wohnungsbesichtigungen war also gar nicht zu denken. Im Netz stieß ihr Mann auf das Wohnprojekt „Schöffenhöhe“ des Entwicklers Vivawest (Slogan „Wohnen, wo das Herz schlägt“), das damals noch im Entstehen war. Er nahm Kontakt auf. Man bot ihm drei Objekte zur Besichtigung an. Zwei Wochen, nachdem das Baby geboren wurde, flog der frisch gebackene Vater für einen Tag nach Düsseldorf, besichtigte die Wohnungen und nahm die Wohnkomplex-eigene Kita in Augenschein. Das Haus an der Mindener Straße, in dem die vierköpfige Familie heute lebt, war damals noch komplett unbewohnt. Um das Gebäude herum existierten noch keine Gehwege und Zufahrtsstraßen. Daša sah die leeren Räume lediglich via Videotelefonat. Zwei Wochen Bedenkzeit später entschied sich das Paar für eine 3,5-Zimmer-Wohnung. Eine Marathon-Suche, wie sie in Düsseldorf die Regel ist, blieb ihnen erspart. Die drei Wohnungen waren die einzigen, die sie sich anschauten.
Selektion
Bei der Suche sei es bestimmt nicht von Nachteil gewesen, dass sie aus Österreich stammten und fließend deutsch sprachen, schätzt Daša heute. Die Vermutung liegt nahe. Auf den 13 Klingelschildern des Hauses stehen – im Unterschied zu vielen anderen Häusern in Oberbilk – ausnahmslos deutsch klingende Namen. „Keine Ahnung, nach welchen Kriterien Vivawest die Leute ausgesucht hat. Aber wir passen alle sehr gut zusammen“, findet Daša Martin. Die homogene Hausgemeinschaft funktioniere ausgezeichnet. Eine Freundin mit offenkundig nicht-deutschem Namen, die sich ebenfalls um eine Wohnung im Haus bewarb, passte offenbar nicht ins Schema. Ihre E-Mail an Vivawest blieb unbeantwortet.
Miete verdoppelt
Ein halbes Jahr nach der Besichtigung zog die junge Familie in die „Schöffenhöfe“ ein. Die Kita hatte gerade eröffnet. Das Gros der Objekte im Haus war mittlerweile bewohnt, nur die großen Wohnungen mit den kleinen Gärten im Erdgeschoss waren noch frei. Insgesamt entstehen auf dem Areal hinter dem Amts- und Landgericht in mehreren Etappen 370 Wohneinheiten in Größen zwischen 46 und 131 Quadratmetern. Der Mix aus 2,5-, 3,5- und 4,5-Zimmerwohnungen soll sowohl Singles als auch Paare und Familien mit Kindern ansprechen, heißt es auf der Webseite des Entwicklers. „Bei uns im Haus gehören wir schon fast zu den älteren Bewohnern“, schätzt Daša Martin. „Leute über 40 sieht man hier ziemlich selten.“ Auf der Mindener Straße bewohnen die Martins den häufig propagierten preisgedämpften Wohnraum. Mit Quadratmeterpreisen ab 9,80 Euro richtet sich das Angebot eindeutig an Mittelschichtler. Das „Handlungskonzept Wohnen“ der Landeshauptstadt Düsseldorf sieht vor, dass Neubauprojekte – dort, wo ein Bebauungsplan existiert – 20 Prozent Sozialwohnungen sowie 20 Prozent preisgedämpften Wohnraum beinhalten müssen. Im Fall der „Schöffenhöfe“ wurde das laut Webseite des Entwicklers umgesetzt. Die Familie Martin zahlt für ihre 96 Quadratmeter monatlich knapp 1.300 Euro Miete. Das entspricht einem Quadratmeterpreis von 13,50 Euro, Betriebskosten inklusive. Der Mietspiegel in Düsseldorf liegt derzeit bei knapp 10,29 Euro pro Quadratmeter, je nach Stadtteil variiert der Preis natürlich stark.
Wohnen wie die Reichen, auch für Arme
Die Wohnung in Wien, die nur unweit kleiner war, kostete nicht einmal die Hälfte. „Das war allerdings auch eine Genossenschaftswohnung. Für diese Wohnungen muss man ähnlich wie in Düsseldorf vorab einen Genossenschaftsanteil erwerben“, so Daša. Für Wiener Verhältnisse sind Genossenschaften nichts Ungewöhnliches. 62 Prozent der Einwohner der Stadt leben in einer geförderten oder kommunalen Wohnung, zahlen zwischen 5 und 9 Euro Bruttomiete. Günstiger Wohnraum und eine angenehme Umgebung schließen sich dabei nicht gegenseitig aus: Bereits in den Siebziger Jahren sorgte der Architekt Harry Glück mit Slogans wie „Wohnen wie die Reichen, auch für Arme“ für Aufsehen. Glücks Markenzeichen: Pools auf den Dächern seiner Gemeindebauten. „So etwas gab es in unserem Haus in Wien auch“, erzählt Daša. Mieter anderer Genossenschaftshäuser seien in den Genuss von Fitness-Räumen, Kinos oder Saunas gekommen.
Im Gegensatz zu Düsseldorf, wo günstiger Wohnraum lediglich in bestimmten Stadtvierteln angeboten wird, verteilt er sich in Wien auf die gesamte Stadt. „Es gibt in jedem Bezirk sozialen Wohnungsbau, außer vielleicht im ersten“, weiß Daša. 200.000 Wohnungen gehören gemeinnützigen Genossenschaften, die öffentlich gefördert werden. 220.000 weitere sind im direkten Besitz der Stadtverwaltung. Keine andere Stadt der Welt besitzt so viele Wohneinheiten. Der soziale Wohnungsbau hat in der österreichischen Hauptstadt eine lange Tradition. Viele der sogenannten Gemeindewohnungen, die nach wie vor Eigentum der Stadt Wien sind, haben ihren Ursprung in der Periode des „Roten Wien“. Im Zuge des ersten Wohnbauprogramms wurden zwischen 1923 und 1934 von der damaligen Sozialistischen Stadtregierung rund 65.000 Wohnungen in 348 Wohnhausanlagen errichtet. Viele dieser Bauten aus der Zwischenkriegszeit stehen heute unter Denkmalschutz und insbesondere die sogenannten „Superblöcke“ prägen bis heute den städtischen Raum ganzer Quartiere.
Ähnliche Bevölkerungsstruktur
Für Wiener Mieter bedeutet die Sonderstellung im europäischen wie auch österreichischen Vergleich ausschließlich Vorteile: Unerwartete Mieterhöhungen oder Kündigungen müssen die Bewohner der Gemeindebauten nicht fürchten: Von Seiten der Stadt werden grundsätzlich unbefristete Verträge abgeschlossen. Welche Hautfarbe man hat, wie man heißt oder welchen Beruf man ausübt, spielt bei der Vergabe des Wohnraums keine Rolle. Für die Gemeindewohnung darf sich grundsätzlich jeder bewerben, der mindestens zwei Jahre seinen Hauptwohnsitz in Wien hat und netto nicht mehr als 46.450 Euro im Jahr verdient, bei einer vierköpfigen Familie liegt die Grenze bei 87.430 Euro. Der günstige Wohnraum wird also keinesfalls nur Geringverdienern offeriert, sondern einem Großteil der Bevölkerung. Entsprechend einfach gestaltet sich die Wohnungssuche: In der Regel werde man „innerhalb von ein paar Wochen“ fündig, sagt Daša. Manchmal laufe das dann auch über einen Makler, „aber von Verdienstbescheinigungen, Schufa-Auskunft oder Massenbesichtigungen habe ich in Wien noch nie gehört“. Die Martins zahlten für ihre 86 Quadratmeter große Wohnung 650 Euro Miete. Das entspricht 7,50 Euro pro Quadratmeter. „Natürlich war uns klar, dass Wien für eine europäische Metropole ausgesprochen günstige Mieten hat“, so Daša. „Aber das Mietniveau hier in Düsseldorf hat uns trotzdem ganz schön schockiert.“ Abschrecken ließen sie sich davon nicht, genauso wenig wie vom schlechten Ruf, der Oberbilk vorauseilt. Schließlich hatten sie in Wien in einem Stadtteil mit ähnlicher Bewohnerstruktur gelebt. Der zehnte Bezirk, genannt Favoriten, ist der mit dem höchsten Anteil an migrantischer und postmigrantischer Bevölkerung in ganz Wien. Geprägt werde er in erster Linie durch Türken und Zuwanderer vom Balkan: „Wenn du dort in die U-Bahn einsteigst, hörst du häufig Bosnisch und Serbisch.“
Häuser am See
Die Genossenschaftswohnung in Wien war Teil eines groß angelegten Neubauprojekts. Im sogenannten „Sonnwendviertel“ leben insgesamt ungefähr 13.000 Menschen. „Es ist fast schon eine kleine Stadt.“ Es gibt einen großen Park mit Caféhaus und Spielplatz, Einkaufsmöglichkeiten, einen Kindergarten und eine Schule, Lokale und ein Seniorenheim. „Man trifft dort völlig unterschiedliche Menschen, das hat mir sehr gut gefallen“, erinnert sich Daša.
Derartige Bauprojekte sind für Wien relativ typisch. Wenn der Platz vorhanden ist, entstehen gleich größere Viertel. Die Seestadt ist auch so ein Quartier. Eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas. Gesamtinvestitionsvolumen: 5 Milliarden Euro. Am nordöstlichen Wiener Stadtrand, wo vor ein paar Jahren noch Ackerland und ein stillgelegtes Flugfeld die Szenerie prägten, sollen bis 2028 in mehreren Bauabschnitten 10.500 Wohnungen für rund 25.000 Menschen entstehen. Ein künstlich angelegter Badesee, groß wie fünf Fußballfelder, sorgt für Naherholungsflair. Weiterer Clou: In der kompletten Seestadt existieren keine oberirdischen Parkplätze. Wer dort wohnt und einen PKW sein eigen nennt, muss ihn in die Tiefgarage fahren. Besucher müssen ihre Karossen außerhalb des Quartiers abstellen – oder gleich mit Öffis anreisen. Letzteres ist ohnehin die beste Lösung. Trotz der peripheren Lage verfügt die Seestadt über eine hervorragende ÖPNV-Anbindung. Die wurde von der Stadt von Anfang an mitgedacht. Noch bevor die ersten Mieter einzogen, verlängerte man die U-Bahnlinie für hunderte Millionen Euro zum Stadtrand. Heute braucht man von der Seestadt ins Zentrum gerade mal 30 Minuten. Zwei U-Bahn-Stationen, ein Bahnhof, sieben Buslinien aus allen Himmelsrichtungen und künftig auch zwei Straßenbahnlinien machen es den Bewohnern leicht, aufs eigene Auto zu verzichten. Das detaillierte Mobilitätskonzept der Seestadt sieht folgende Verteilung vor: 40 Prozent Radfahren und Gehen, 40 Prozent öffentlicher Verkehr und lediglich 20 Prozent Autoverkehr.
Verglichen mit den progressiven Konzepten aus Wien scheint Düsseldorf eher Jahrzehnte als nur Jahre hinterherzuhinken. Daša Martin hat die Unterschiede zwischen den beiden europäischen Städten längst ausgemacht, auch im Hinblick auf das Thema Mobilität: Was die öffentlichen Verkehrsmittel angeht, würde sie sich für Düsseldorf eine höhere Taktung und preiswertere Tickets wünschen. In Wien gibt es bereits seit 2012 das 365-Euro-Ticket. Für einen Euro pro Tag kann man im gesamten Stadtgebiet Busse und Bahnen nutzen. Der gewünschte Effekt hat sich schnell eingestellt: Inzwischen gibt es in der österreichischen Kapitale mehr Jahreskartenbesitzer als angemeldete Autos. In Düsseldorf hingegen machen Autos mit 36 Prozent (Stand: 2018) immer noch den größten Anteil am Gesamtverkehr aus. Dementsprechend genießen sie an vielen Stellen in der Stadt Vorfahrt vor anderen Verkehrsteilnehmern. Die Ampelschaltungen am Oberbilker Markt empfindet Daša Martin beispielsweise als extrem ungünstig für Fußgänger: „Du schaffst es nie in einer Grünphase über die Kreuzung, sondern musst immer auf der Verkehrsinsel in der Mitte noch mal warten.“ Auch an die vergleichsweise radikalen Autofahrer hierzulande möchte sich die Familie, die seit Jahren ohne PKW auskommt, nicht gewöhnen. „Wenn du in Österreich am Zebrastreifen stehst, halten die Autos selbstverständlich an“, so Daša. Das Bei-Rot-über-die-Ampel-Fahren sei dort weit weniger verbreitet als hierzulande. „Allein in den anderthalb Jahren, die wir in Oberbilk wohnen, gab es an der Werdener Straße zwei tödliche Unfälle“, sagt Daša Martin. „Das ist eine schreckliche Statistik, die mich wütend macht.“
Wohnungsmarkt Wien/Düsseldorf im Vergleich
Wien
Einwohner: 1,9 Millionen
Mietwohnungen insgesamt: ca. 700.000
Wohnungen im Besitz der Stadt: 220.000 Wohnungen
Genossenschaftswohnungen: 200.000
Durchschnittlicher Quadratmeter-Preis für eine Mietwohnung in Wien: 7 Euro (Gemeindewohnungen), 7,90 Euro (Genossenschaftswohnungen), 10,20 Euro (private Mietwohnungen)
Düsseldorf
Einwohner: 645.000
Mietwohnungen insgesamt: ca. 360.000
Wohnungen im Besitz der Städtischen Wohnungsgesellschaft (SWD): 9.000
Genossenschaftswohnungen: 19.000
Durchschnittlicher Quadratmeterpreis für eine Mietwohnung in Düsseldorf: ca. 11 Euro