Ich ziehe gerade um. Und so ein Umzug geht unweigerlich mit intensivem Erinnern einher. Vor einigen Tagen fand ich in den tiefsten Tiefen einer Schublade ein besonders schönes Erinnerungsstück. Ein sehr altes Foto von Tocotronic. Das Foto zeigt die Band, damals noch als Trio mit Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank, auf einem Spielplatz in Langenfeld. Von Lowtzow trägt das legendäre „Vita Malz“-Shirt und Jan Müller hockt, Haarsträhnen seiner asymmetrisch geschnittenen Frisur im Gesicht, auf einem hölzernen Turm, von dem aus man – aber das ist pure Spekulation und auf dem Bild nicht zu sehen – eventuell eine Rutsche erklimmen konnte. Aufgenommen hat das Bild meine Freundin K. K arbeitete, als das Bild gemacht wurde, in einem Veranstaltungsbetrieb in Langenfeld, in dem sie völlige Narrenfreiheit genoss und quasi einladen konnte, wen sie wollte. Die mit maximalen Freiheiten Ausgestattete war zu der Zeit – wie viele Musikfreund:innen – sehr hamburgaffin und so lud sie neben Rocko Schamoni oder Die Sterne auch Tocotronic in die Mittelstadt ein. Die Band hatte damals, man schrieb das Jahr 1995, gerade ihre erste Platte mit dem Titel „Digital ist besser“ veröffentlicht und wurde massiv von der „Spex“ gehypt, einer intellektuellen Musik-Postille, die zu lesen seinerzeit zum guten Ton gehörte. In Langenfeld freilich krähten nach der „Spex“ und ihren Empfehlungen nur sehr wenige Hähne, es war und ist überhaupt ziemlich ruhig dort. Entsprechend schwach war auch das Konzert von Tocotronic besucht. K kümmerte der Mangel an Publikumszuspruch nicht die Bohne. Im Gegenteil. Wie viele Freund:innen von Independent-Musik war auch sie der festen Überzeugung, dass Kunst oder Musik, auf die sich viele Menschen einigen können, auf keinen Fall gut sein kann. Und Tocotronic waren zweifelsohne fantastisch.
Heute arbeitet K immer noch in dem gleichen Veranstaltungsbetrieb. Ab und an schweifen ihre Gedanken mehr als ein Vierteljahrhundert zurück – und sie erinnert sich an den Langenfeld-Besuch von Tocotonic. Das allerdings gar nicht unbedingt wegen der Musik. Obwohl wir die seinerzeit – und manchmal auch noch heute – sehr feierten, barg sie doch jede Menge Identifikationspotenzial. Es sind vielmehr die feinen Charaktere der Bandmitglieder, die K begeisterten und die sie bis heute zum Schwärmen bringen. Ein Detail bleibt im Zusammenhang mit dem Kapitel „Tocotronic in Langenfeld“ niemals unerwähnt: Die Tatsache, dass die Band nach dem von K höchstpersönlich zubereiteten Essen, fragte, ob sie noch beim Spülen helfen sollte. Wer wie K in einem Veranstaltungsbetrieb arbeitet, weiß, wie rar solche Angebote sind – und das keinesfalls nur in der Liga von Billie Eilish. Ob Tocotronic heute noch nach Konzerten ihre Hilfe beim Spülen anbieten, ist übrigens nicht überliefert. In Langenfeld jedenfalls gastierten sie nur dieses eine, unvergessene Mal.
2 Kommentare
KommentierenHach. Wie immer ein schöner Artikel. Danke! Du ziehst um? Ich denke aber, du bleibst in deinem Kiez, oder?
Danke, liebe Carmen. Und: Ja, ich bleibe im Kiez, naturellement.