Für den Bereich Lebensmittel und Ernährung ist Bernhard Burdick ein ausgewiesener Experte. Seit 2002 arbeitet der studierte Agrarwissenschaftler für die Verbraucherzentrale NRW. Dort leitet Burdick die Gruppe „Markt und Konsum“. theycallitkleinparis hat mit ihm über die stark steigenden Lebensmittelpreise gesprochen, über ihre Ursachen, über die Konsequenzen von Hamsterkäufen und darüber, was die Politik tun sollte.
Wir erleben derzeit einen starken Anstieg der Lebensmittelpreise. Über welche prozentualen Preissteigerungen reden wir da eigentlich? Und wie haben sich die Lebensmittelpreise vor Ukraine-Krieg und Pandemie entwickelt, kannst du das mal einordnen?
Lag die durchschnittliche Teuerungsrate zwischen 2000 und 2019 noch knapp unter 1,5 Prozent, stieg der Preisanstieg von März 2021 bis März 2022 insgesamt auf mehr als sieben Prozent, vor allem wegen höherer Energie- und Lebensmittelpreise. Das klingt aber dramatischer, als es ist. Die Lebensmittelpreise sind in den vergangenen 20 Jahren deutlich weniger angestiegen als andere Lebenshaltungskosten. Hinzu kommt, dass die Menschen in Deutschland noch im Jahr 2020 durchschnittlich nur etwa 12 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel beziehungsweise für die Ernährung ausgegeben haben. Das liegt deutlich unter den Werten in vielen anderen europäischen Ländern. Die Preise für Lebensmittel haben auch schon in den vergangenen Jahren angezogen. Viele Faktoren hatten und haben Einfluss auf die Kosten und Preise in der Landwirtschaft und der Lebensmittelwirtschaft. Neben den immer wiederkehrenden saisonalen Schwankungen oder Ertragsausfällen wegen Witterungsextremen steigen seit einigen Jahren aber die Produktionskosten. Kosten für Energie und Düngemittel sind schon seit längerem angestiegen, Arbeitskräftemangel und Mindestlohn verteuern die Personalkosten. Bereits im Juli 2021 setzte der erste Preisschub bei Lebensmitteln ein, der sich bis heute Monat für Monat fortsetzt. Im Februar 2022 wurden Lebensmittel gegenüber dem Vorjahresmonat durchschnittlich um 5,1 Prozent teurer, im März 2022 sogar um mehr als 7 Prozent. Da leitete der Discounter Aldi eine neue Runde der Preiserhöhungen ein. Nicht alle Preissteigerungen basieren aber auf höheren Herstellungskosten. Die Preise vieler Agrarprodukte orientieren sich an Weltmarktpreisen. Preisbewegungen werden aber – wie bei Erdöl und Gas – von Börsenspekulation meist dramatisch verstärkt. Zusätzlich wäre ein kritischer Blick der Politik und des Kartellamtes auf die Akteure entlang der Lebensmittelherstellung nötig, falls einige die Gunst der Stunde nutzen, um die eigenen Erträge zu verbessern. Düngemittelhersteller haben beispielsweise bereits Rekordgewinne veröffentlicht und gehören damit zu den Krisengewinnern. Sie sind aber bestimmt nicht die einzigen.
Welche Produktgruppen sind von den momentanen Preissteigerungen besonders betroffen und aus welchen Gründen?
Anfangs waren es vor allem Pflanzenöle und Mehl beziehungsweise Backwaren, aber auch verschiedene Obst- und Gemüsesorten. Mittlerweile sind von den Preissteigerungen aber so ziemlich alle Lebensmittel betroffen. Das liegt vor allem daran, dass sich die steigenden Energiekosten auf alle Produktions-, Transport-, Lagerungs- und Verarbeitungsschritte auswirken.
Gibt es auch Gegenbeispiele, also Artikel, die günstiger geworden sind?
Nein, die Energiepreise schlagen auf alles durch und mittlerweile sind so ziemlich alle Produkte und Produktgruppen betroffen. Zudem mehren sich Stimmen in den Medien, die vermelden, dass mit weiteren Preissteigerungen zu rechnen sei, da manche Kosten, zum Beispiel Energie oder Futtermittel, erst nach und nach wirksam werden beziehungsweise eingepreist werden. Andererseits ist völlig intransparent, ob nicht vorauseilend im allgemeinen Preisanstiegs-Fieber auch schon künftige Preisanstiege vorweggenommen wurden. Zumindest fällt es schwer nachzuvollziehen, wie sich der Preis von Butter oder Pflanzenöl entwickelt. So wird das 250-Gramm-Paket Butter erstmals zu Preisen über 3 Euro angeboten. Das ist in der Höhe schwer nachzuvollziehen. Der Liter Öl wird im Handel für bis zu 8 Euro angeboten. Auch das ist kaum zu rechtfertigen, aber kaufen muss zu diesem Preis ja niemand.
Rewe-Chef Lionel Souque äußerte vor einigen Wochen in einem Interview, dass der Handelsriese nicht alle Kostensteigerungen der Lieferanten an die Kunden weitergeben wolle. „Es ist klar, dass wir dieses Jahr auf unsere Spanne teilweise verzichten müssen“, sagte Souque. Ein Appell an die Solidarität. Ein schlauer Schachzug von ihm?
Über die Gewinnmarge der Supermärkte kann man viel spekulieren, sicher sein dürfte, dass es – trotz aller gerechtfertigten Preiserhöhungen – auch einige Mitnahmeeffekte geben dürfte, nach dem Motto: Wenn alle die Preise erhöhen, machen wir das auch. Aber wegen der vielen Einflussfaktoren ist es schwierig, eindeutig nachzuweisen, was an Preisanstiegen gerechtfertigt ist und was nicht.
In den sozialen Netzwerken waren in den vergangenen Wochen viele Fotos von leeren Supermarktregalen zu sehen. Öle, Nudeln oder Mehl waren ausverkauft. Welche Folgen haben Hamsterkäufe?
Ukraine und Russland sind Hauptanbau- und Exportländer für Weizen, Mais, Sonnenblumen und Raps. Wenn die Exporte von dort ausfallen, wirkt sich das auf dem Weltmarkt aus. Die Waren werden knapper und die Preise steigen. Leidtragende sind dabei vor allem die Länder, die von Importen aus der Region abhängen. Manchen afrikanischen Ländern drohen Hungersnöte. Wir in Deutschland sind hingegen bei Weizen und Raps wie bei den meisten anderen Agrarprodukten Selbstversorger, produzieren also selbst genug für den Eigenbedarf. Wenn aber in Erwartung künftiger Knappheiten – auch getriggert durch Medienberichte – viele etwas mehr als den aktuellen Bedarf decken, als eine Extra-Flasche Pflanzenöl oder ein zusätzliches Paket Mehl kaufen, brechen auch die heimischen Lieferketten zusammen. Nachschub fehlt, aber nicht weil die Rohstoffe fehlen, sondern weil in so kurzer Zeit nicht geliefert werden kann. Das ist eine klassische Self Fullfilling Prophecy. In Erwartung von Knappheiten erzeugen wir Knappheiten. Vieles wird sich in absehbarer Zeit wieder einpendeln, aber manche Produkte wie zum Beispiel Sonnenblumenöl werden knapp bleiben oder längere Zeit nicht verfügbar sein.
Schauen wir mal über den eigenen Tellerrand, in europäische Nachbarländer. Wie ist es dort um die Preissteigerungen bei den Lebensmitteln bestellt?
In vielen Nachbarländern war das Preisniveau für Lebensmittel schon früher höher als bei uns, aber die Ursachen für steigende Preise greifen in globalen Märkten auch dort.
Wir sprechen ja derzeit viel über Agrarprodukte, die aus Russland und der Ukraine importiert werden. Wie hoch ist eigentlich der Selbstversorgungsgrad bei Agrarprodukten in Deutschland?
Bei den wichtigsten Agrarprodukten wie Getreide, Milch, Fleisch, Kartoffeln oder Zucker haben wir Selbstversorgung oder sogar deutlich mehr, als wir in Deutschland benötigen. Vor allem bei Eiern, aber auch bei Obst und Gemüse gibt es hingegen deutliche Defizite – und das nicht nur bei Zitrusfrüchten.
Du hast es schon erwähnt. Beim Getreide könnte der Bedarf in Deutschland zu 100 Prozent durch das gedeckt werden, was hier im Land angebaut wird. Allerdings werden knapp zwei Drittel des Getreides an Tiere verfüttert. Eine Stellschraube, an der man drehen sollte?
Unbedingt, und das aus mehreren Gründen. Der Pro-Kopf-Konsum von Fleisch liegt seit vielen Jahren auf einem hohen Niveau, leicht sinkend bei circa 60 Kilogramm pro Jahr. Fleisch ist – anders als vor ein paar Jahrzehnten – überall billig verfügbar. Der Preisdruck geht aber zulasten von Tierwohl, Umwelt und Arbeitsbedingungen. Gerade die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen sind auch durch Corona nochmal ins Bewusstsein gerückt, Umweltprobleme durch Überdüngung der Felder und Nitrat im Grundwasser oder die überwiegend schlechten Haltungsbedingungen der Tiere sind ebenfalls seit langem bekannt. Weniger Fleisch und mehr pflanzliche Ernährung empfehlen wir als Verbraucherzentrale schon seit langem, das wäre auch gut für unser aller Gesundheit. DGE, UBA, WHO, DANK und viele mehr fordern seit langem mindestens eine Halbierung des Pro-Kopf-Verbrauchs an tierischen Lebensmitteln. Wenn wir im Durchschnitt halb so viel Fleisch kaufen, dafür aber doppelt so viel ausgeben, würde das an sehr vielen Stellen helfen und die Situation verbessern – für die Tiere, die Umwelt, das Klima, die Bauern und uns alle.
„Preisschock“, „Lebensmittelpreise steigen rasant an“, „Preisexplosion“ – die Medien berichten umfangreich über das Thema Preissteigerungen im Lebensmittelbereich. Wie ist Ihre Rolle zu bewerten?
Diese Panikmache der Medien ärgert mich schon. Wie eingangs beschrieben haben wir in der Vergangenheit wenig, wahrscheinlich zu wenig für Lebensmittel ausgegeben, weil der starke Konkurrenzkampf der Handelsketten das möglich gemacht hat. Für die zu niedrigen Lebensmittelpreise in Deutschland waren und sind die Einkäufer der Handelsketten weitaus mehr verantwortlich, als die Einkäufer der Haushalte, aber das wäre ein neues Thema, wie es denn um Transparenz und Qualität von Lebensmitteln wirklich steht.
Wie ist deine Prognose für die Zukunft: Werden die Lebensmittelpreise dauerhaft auf einem hohen Niveau bleiben oder gar noch weiter steigern?
Es gibt zahlreiche Stimmen, die genau das vermuten. Ich denke auch, dass die Energiepreise nicht so schnell – vielleicht auch gar nicht – wieder sinken werden, zumindest nicht auf das Niveau von vor einigen Jahren. Und Energie steckt überall drin, in der Produktion, der Verarbeitung, der Lagerung und dem Transport. Also wird unser aller Leben teurer. Wenn wir als Gesellschaft Klimaschutz und Nachhaltigkeit endlich ernst nehmen, erfordert das einen Umbau an vielen Stellen, der uns alle viel kosten wird. Für den Umbau der Tierhaltung beziehungsweise der Land- und Ernährungswirtschaft liegen einige Konzepte bereits vor. In der EU der Green deal oder die Farm-to-Fork-Strategie, in Deutschland die Zukunftskommission Landwirtschaft, die Borchert-Kommission oder das WBAE-Gutachten. Noch fehlt aber der politische Wille, diesen Umbau wirklich anzugehen, Zielkonflikte zu lösen und die Finanzierung abzusichern. Und im Moment ist die Regierung meist mit anderen Problemen befasst. Die steigenden Energiepreise und die fatalen Abhängigkeiten erzeugen zumindest zusätzlichen Druck, dass sich endlich etwas bewegt.
Ähnlich wie bei den Energiekosten treffen auch die Preissteigerungen im Lebensmittelbereich in erster Linie sozial Schwache. Welche Maßnahmen sollte die Politik ergreifen, um gegenzusteuern?
Für Menschen mit geringen Einkommen sind die Preissteigerungen schon länger ein Problem. Denn der Hartz-IV-Satz für Lebensmittel liegt pro Tag bei etwa 5,20 Euro – das reicht nicht für eine gesunde Ernährung. Da die Lebensmittelpreise seit dem Sommer 2021 stark ansteigen und Handel und Ernährungsindustrie weitere Preissteigerungen angekündigt haben, ist es aus Sicht der Verbraucherzentrale NRW höchste Zeit für politisches Handeln, um Menschen mit geringen Einkommen zu unterstützen. Immerhin 16 Prozent der Menschen in Deutschland gelten laut Paritätischem Wohlfahrtsverband als arm. Die Verbraucherzentrale NRW fordert deshalb eine deutliche Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze, so dass auch bei hohen Lebensmittelpreisen eine gesunde Ernährung möglich ist. Sonderzahlungen für Personen mit niedriger Rente und Bezieher:innen von Grundsicherung. Eine Beitragsreduzierung für die Gemeinschaftsverpflegung in Kitas, Schulen, Hochschulen oder für Geringverdiener:innen in Unternehmen, öffentlichem Dienst und sozialen Einrichtungen. Eine Senkung der Mehrwertsteuer für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte. Eine Unterstützung der Einrichtungen, die Mahlzeiten für Obdachlose anbieten. Genau genommen braucht es aber ein politisches Konzept, eine umfassende Ernährungsstrategie, die Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Public Health und soziale Teilhabe in Einklang bringt.
Aus der Agrarlobby werden jetzt schon Stimmen laut, die fordern, den Verzicht auf Düngemittel oder Extensivierungsmaßnahmen zurückzuschrauben, um mehr produzieren zu können. Bedeutet die Ukraine-Krise einen Verzicht auf Umwelt- und Klimaschutz?
Ein Weiter-so-wie-bisher oder gar Zurückdrehen darf auf keinen Fall passieren. Das wird unsere Probleme nicht lösen, sondern eher verschärfen, gerade mit Blick auf die globalen Abhängigkeiten. Vielmehr müssen wir die Krise als Chance begreifen, also mehr auf Resilienz, Nachhaltigkeit, Selbstversorgung achten. Das muss letztlich global das Ziel sein.