Die blauen Berge. Ein Oberbilk-Buch geht auf Reisen

Vor einigen Wochen erreichte mich eine Nachricht. Sie kam aus einem winzigen Dörfchen in Brandenburg. Absenderin: eine ehemalige Oberbilkerin. „Liebe Frau Wehrmann, letztes Jahr zu Weihnachten hat man mir Ihr Buch Oberbilk. Hinterm Bahnhof geschenkt“, schrieb Martina Bauchrowitz. Bei der Lektüre habe sie sich in ihre Kindheit und Jugend zurückversetzt gefühlt. Die ersten 27 Jahre ihres Lebens, von 1956 bis 1983 verbrachte die Biologin nämlich hinter dem Düsseldorfer Hauptbahnhof. Auf der Ellerstraße 70, um genau zu sein. Mit ihrer Mail wollte die Absenderin keinesfalls ausschließlich ihrer Begeisterung über das Buch Ausdruck verleihen. Sie war vielmehr außerdem auf der Suche nach einem weiteren Exemplar. Die 2000 Stück, die Markus Luigs und ich hatten drucken lassen, waren allerdings schon seit einigen Monaten vergriffen. Dennoch existierte im hintersten Winkel meines Küchenschranks noch eine eiserne Reserve. Das allerletzte Buch hatte ich mir für einen besonderen Anlass aufgehoben. Der war nun offenbar gekommen. Frau Bauchrowitz wollte das Buch nämlich Klaus schenken, ihrem Freund aus Kindertagen. Der hatte einst im gleichen Haus auf der Ellerstraße 70 gelebt, war aber in den 1980er Jahren nach Australien ausgewandert. „Im November werde ich ihn dort besuchen“, schrieb Bauchrowitz. Und das Buch sollte, so ihr Plan, mit. Die Idee, dass das Oberbilk-Buch auf den fünften Kontinent reisen würde, gefiel mir. Zwar waren von den Exemplaren, die nicht über den Buchhandel verkauft wurden, einige ins europäische Ausland verschickt worden – nach Norwegen, Spanien, in die Schweiz und nach England –, den europäischen Kontinent hatte unser Werk aber bisher nicht verlassen.

Kindergeburtstag im Hause Bauchrowitz: Martina (ganz rechts, mit Whitey), Klaus (links) und andere Gäste, Foto: privat

Ich schrieb Frau Bauchrowitz, dass ich ihr das letzte Buch gerne überlassen würde – und kurz darauf klingelte mein Telefon. In der nächsten Stunde sprudelten die Erinnerungen nur so aus der langjährigen Oberbilkerin heraus. Zwei Jahre, bevor sie geboren wurde, hatten ihre Eltern, die aus Ostpreußen fliehen mussten, die Wohnung auf der Ellerstraße angemietet. Erstbezug, das Haus war gerade frisch gebaut worden. Die dreiköpfige Familie lebte in einer Zweizimmerwohnung unter dem Dach. „Es gab ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine riesige Küche“, erzählt Bauchrowitz. In letzterer habe sie geschlafen, bis sie 19, 20 war. „Aber das war ja damals nichts Ungewöhnliches.“ Klaus, der drei Jahre jünger ist als sie, wohnte mit seiner Familie im Erdgeschoss des Hauses. „Ich kenne ihn, solange ich denken kann.“ In den 1950er und 1960er Jahren war die Ellerstraße noch kopfsteingepflastert, aber dennoch schon stark befahren. So spielten die Kinder häufig im Treppenhaus – oder in der Toreinfahrt. In einer großen Holzkiste, die im Hinterhof stand, bauten sie sich eine Wohnung, mit Vorhängen aus Seidenpapier. Im Treppenhaus stellten sie Zirkus-Szenen nach. Bauchrowitz gab dabei gerne die Trapezkünstlerin und baumelte regelmäßig kopfüber vom Treppengeländer in der ersten Etage.

Vieles von dem, was Martina Bauchrowitz aus ihrer Kindheit und Jugend erinnert, ist mittlerweile natürlich aus dem Oberbilker Straßenbild verschwunden. Fast alles eigentlich. Allein die Apotheke auf der Ellerstraße gab es bereits in ihrer Kindheit. Die Metzgerei König am Dreiecksplatz, der damals als No-Go-Area galt. Und die Shell-Tankstelle an der Kruppstraße Ecke Linienstraße. Dort verbrachte das Mädchen gerne seine Freizeit – gemeinsam mit Whitey, dem Weißen Schottischen Terrier des Tankstellenpächter-Paars. Wenn Bauchrowitz nicht gerade mit dem flauschigen Vierbeiner im nahen Volksgarten Gassi ging, saßen die beiden im gläsernen Tankstellenhäuschen auf der Fensterbank und beobachteten das Treiben rund um die Zapfsäulen. „Das konnten wir stundenlang machen, ohne dass uns langweilig wurde.“

Schaukeln am Lessingplatz, Foto: privat

Dennoch bestand das Leben des Oberbilker Mädchens keinesfalls nur aus süßem Nichtstun. An der Tankstelle säuberte sie die Scheiben der Autos, im Lebensmittelladen Rotthoff an der Linienstraße (dort, wo heute der Nador Markt ist) räumte sie die Regale auf und im Kurzwarengeschäft Grohmann neben der Apotheke auf der Ellerstraße staubte sie mit einem Pinsel die Knöpfe ab. Ehrenamtlich. Martina Bauchrowitz lacht: „Ich habe mir immer Aufgaben gesucht. Warum, kann ich gar nicht sagen.“ Ihren Stadtteil zu verlassen, fiel ihr zu der Zeit schwer. Als sie Schulfreundinnen besuchen wollte, die in der Siedlung Freiheit in Vennhausen wohnten, musste sie schon auf der Kölner Straße umdrehen, weil das Heimweh von ihr Besitz ergriff. Auch später, als sie bereits eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin absolvierte, dachte sie noch, dass sie ihr Leben lang in Düsseldorf bleiben würde. Dann lernte sie ihren jetzigen Mann kennen, der wie sie Biologie studierte. Das Paar zog zusammen nach Freiburg, später dann nach Frankreich und in die Schweiz. Mittlerweile leben die beiden seit 12 Jahren in Brandenburg. Das Heimweh hat Martina Bauchrowitz längst überwunden.

In Oberbilk ist sie heute nur noch selten, obwohl ihre Schwägerin in Düsseldorf wohnt. Die Enge in dem dicht bebauten Stadtteil sei ihr erst bewusst geworden, als sie schon nach Freiburg umgezogen war – und von ihrer Wohnung dort erstmals einen freien Blick genoss. „Auf der Ellerstraße konnte ich den Himmel ja nur sehen, wenn ich nach oben schaute.“ Schön sei Oberbilk nun wirklich nicht, findet Bauchrowitz. „Es zieht mich nichts zurück. Aber als Kind habe ich mich im Viertel sehr wohlgefühlt.“ Das Dörfchen, in dem sie heute lebt, hat mit der Gegend hinterm Bahnhof nichts gemein. Kein Lärm. Kein Schmutz. Kein Verkehr. Nur Wälder und Seen. Und gerade mal 120 Menschen. Ab Mitte November wird sie diese Szenerie gegen eine andere eintauschen. Dann geht es via Singapur nach Sydney. In der Nähe der australischen Metropole lebt Klaus, ihr Kinderfreund. Und so erlebt das, was einst an der Ellerstraße begann, über 16.000 Kilometer von Oberbilk entfernt, am Fuße der blauen Berge, seine Fortsetzung.

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oh wie schön, eben erst entdeckt, denke so gern an Oberbilk, die heißen Sommer, die geöffneten Fenster aus denen die Hitparade in die Häuserschluchten waberte. Lady Madonna und so… Dazu eine kleine Cola, 25 Pfennige, vom Büdchen am Lessingplatz, 5 Pfennig Pfand zurück, ein Vermögen. Und der herrliche Wasserspielpatz

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