Alexander Flohé im Interview – „Krude Möglichkeiten in dieser kruden Wirklichkeit“

Alexander Flohé ist Stadtforscher und lehrt seit vielen Jahren Stadtsoziologie an der Hochschule Düsseldorf. Gemeinsam mit seinem Kollegen Carsten Johannisbauer hat der 52-Jährige vor einigen Wochen das Meteorit Magazin herausgegeben, ein Heft, das sich mit Utopien rund um das Thema Stadt beschäftigt. Wie schwierig ist es in dieser seltsamen Zeit Utopien zu entwickeln? Unter anderem darüber hat theycallitkleinparis mit Flohé gesprochen.

Alex, du bist Stadtforscher und lehrst Stadtsoziologie. Wie erforschst du die Stadt?
Gehend, liegend, riechend, sehend, hörend, redend, fragend. Und noch vieles mehr. Denn darum geht es ja auch: Anders wahrnehmen und Wahrnehmungen verschieben, um andere Ein- und Ausblicke sowie Erkenntnisse zu gewinnen. Sozusagen darum, den schiefen Blick auf das Sichtbare zu wagen. Auch das ist praktische, kritische Stadtforschung. Es gibt ja die eher klassischen Methoden wie Stadtteilbegehungen, fotografische Arbeiten oder Interviews mit Bewohner:innen. Es gibt aber auch eher kreative, stadterforschende Interventionen in den Stadtraum wie das Dérive, also das bewusste Verlaufen in der Stadt. Oder das Frühstücken im öffentlichen Raum, Field Recordings, die temporäre Umgestaltung von Räumen oder Orten. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Stadt kreativ-praktisch zu erforschen. In der Stadtsoziologie geht es natürlich mehr um den theoretischen Rahmen, um aktuelle Tendenzen der Stadtentwicklung und den kritischen Blick darauf. Um mal kurz drei Themen zu nennen: Die Eventisierung/Festivalisierung von Stadt, die Gentrifizierung und die Frage wie und wo wir wohnen sowie der Wandel des öffentlichen Raums.

Ist es in erster Linie Düsseldorf, das du erforschst? Oder geht es eher um allgemeine Entwicklungen?
Also in erster Linie ist es natürlich Düsseldorf, denn mit den Studierenden kann man ja leider nicht so einfach mal durch die Städte der Welt reisen. Privat sieht das ein bisschen anders aus. Und natürlich geht es um die drängenden Themen aktueller Stadtentwicklung, wie eben schon erwähnt: der kritische Blick auf die Stadtentwicklung, auf die Stadtpolitik, das Wohnen, die Architektur, die Stadtplanung, auf die Verdrängungen, den Protest, das Engagement und die Partizipation. Aber es geht auch um die kleinen, ungemein wichtigen Dinge und Orte, beispielsweise um die Büdchen in den Stadtteilen, die Eckkneipen, um die Nachbarschaften, das Zusammenleben, die Straßen und Plätze, die Kultur in der Stadt, die Nutzung des öffentlichen Raums und die Entwicklung von, ich nenne es mal so, Möglichkeitsräumen. Es geht immer um Alternativen. Oder besser: um Möglichkeiten, die man betrachten, denken und entwickeln muss. Eben um den – so hat es Robert Musil mal gesagt – „Möglichkeitssinn“. Und damit auch immer um die Frage nach dem Recht auf Stadt und einer anderen Gestaltung von Stadt.

Wie verändern sich städtische Räume, gerade seit Beginn der Pandemie? Welche sind die drängenden Fragen und Diskurse derzeit?
Drängende Fragen gibt es viele, nicht erst seit der Pandemie. Die drängende Wohnungsfrage bleibt bestehen, also die Frage, wer wie wo in welchen Wohnungen leben kann und darf? Und auch der Wandel des öffentlichen Raums hin zu privatisierten, überwachten, verregelten und verrechtlichten Räumen für nicht mehr alle Menschen. Aber klar wird der Stadtdiskurs in der Soziologie, Architektur und Stadtplanung auch um die Themen „Zukunft der Mobilität“, der mit dem Klimawandel verbundenen Thematik der Aufheizung der Städte oder – das war während dem Corona-Lockdown eine Frage – den Wandel der Innenstädte und Einkaufsstraßen geführt. Was passiert zum Beispiel, wenn immer mehr Kunden online bestellen, mit dem stationären Einzelhandel? Des Weiteren hat die Pandemie nochmal die großen sozialen Ungleichheiten innerhalb einer Stadt aufgezeigt: Man konnte sehen, in welchen Stadtteilen mehr Leute erkrankten oder gar gestorben sind, da diese viel beengter leben oder wegen prekärer Jobs im Dienstleistungssegment eben nicht im Home Office bleiben konnten. Auf der anderen Seite konnte man feststellen, in welchen Stadtteilen, in welchen schönen Altbauwohnungen die Leute in der Quarantäne die Möglichkeit hatten, Yoga und Fremdsprachen zu lernen oder mit ihren Kindern perfekt ausgestattet Home Schooling zu betreiben.

Anfang September hast du gemeinsam mit deinem Kollegen Carsten Johannisbauer das Meteorit Magazin herausgegeben. Wie entstand die Idee?
Kurz: durch wildes, offenes Denken. Ausführlicher gesagt: Es gab an der Hochschule die Möglichkeit Projekte zu entwickeln. Die Idee, man solle sich mit Utopien auf Stadtebene beschäftigen, kam dann schnell auf. Es ging darum, den – wie es im Heft heißt – Möglichkeitssinn rauszukitzeln und auszureizen. Dass die Utopien dann auch die Stadtebene verlassen haben, war so nicht vorgesehen, aber folgerichtig. Denn Stadt ist alles und alles findet auch in der Stadt statt. Wichtig war uns, dass das Projekt auch eine Form findet, die die Diskussionen, das alles dokumentiert, zusammenführt, zeigt. Deshalb das Magazin.

Wieso der Titel, Meteorit Magazin?
Der Meteorit fliegt mit strahlend hellem Schweif herum und trifft knallend irgendwann irgendwo auf die Erde. Völlig überraschend. Und, nun ja, manchmal verändert so ein Einschlag ganz schön oder eben nicht so schön die Umgebung. Ist ja oft Ansichtssache. Aber das ist ein schönes Bild, fanden wir.

Mit allen Vorüberlegungen und Konzeptionierungen habt ihr anderthalb Jahre am Meteorit Magazin gearbeitet. Wer hat mitgewirkt?
Viele. So ein Magazin kann nur mit vielen tollen Leuten gelingen. Wir hatten eine tolle Gruppe von Studierenden, mit denen wir ein Jahr gedacht und entwickelt haben. Und wir haben eine tolle Gruppe von Autor:innen und Künstler:innen. Mit den Studierenden haben wir kontrovers das Projektjahr über diskutiert. Denn es ist heutzutage – auch das war interessant – gar nicht so einfach, sich vom Alltag zu lösen und mal in Utopien zu denken. Neben den Studierenden, die auch Beiträge zum Magazin beigesteuert haben, haben wir weitere Autor:innen angesprochen. Insgesamt ist ein sehr interessanter Mix dabei herausgekommen: Wissenschaftliches trifft auf Kunst trifft auf Rezensionen trifft auf wilde, tolle Geschichten und Assoziationen.

Ihr habt eine Auflage von 2.000 Exemplaren drucken lassen. Wo kann man das Heft bekommen?
Es wird bundesweit verteilt, liegt an vielen Orten aus, zum Beispiel in der Buchhandlung König hier in Düsseldorf, bei „Do you read me“ in Berlin, in vielen Kultureinrichtungen, Buchhandlungen. Und natürlich an der Hochschule Düsseldorf. Wo auch immer der Meteorit landet.

Soll es in Zukunft regelmäßig erscheinen?
Nein, das ist leider nicht machbar, auch aus finanziellen Gründen, das Heft gibt es ja kostenlos. Geplant war eine Ausgabe und dann sollte Schluss sein. Aber aufgrund der großen, sehr positiven Resonanz und weil das Thema viel Potential hat, wird es im nächsten Jahr ein zweites Magazin geben. Man darf also gespannt sein und kann sich die Geschenke für die ganze Familie schon mal sparen.

Spreepark Berlin, 2022, Foto: jenzzz

Das Thema des Magazins ist „Utopie“. Wie leicht ist es euch als Redaktion gefallen, Utopien zum Thema Stadt zu entwickeln?
Das war eine sehr interessante Erfahrung: Wie ich eben sagte, ist es gar nicht so einfach, sich aus dem Alltag und den bekannten Umständen zu lösen und einfach mal utopisch drauflos zu denken. Aus diesem Grund hatten wir auch vor, uns aus bekannten Mustern, Strukturen und Räumen zu lösen. Also zum Beispiel nicht mit dem Studierenden in den klassischen Schulräumen der Hochschule zu sitzen und dort zu diskutieren. Orte und Räume prägen ja auch, haben bestimmte Atmosphären, bestimmen das Denken. Wir wollten in dem Projekt eigentlich andere Räume nutzen, wollten ein leerstehendes Ladenlokal mieten, als Diskurs-, Utopie- und Stadtlabor. Neben all den Einschränkungen durch die Pandemie war aber genau das ein Problem. Denn versuch’ mal in Düsseldorf für ein tolles Projekt temporär einen Raum zu mieten. Sollte kein utopisches Vorhaben sein, um es mal so zu sagen, ist es aber mitunter doch. Dennoch, um zu deiner Frage zurückzukommen, haben wir mit den Studierenden wild gedacht. Daraus sind dann ja auch einzelne Artikel in dem Magazin entstanden, beispielsweise zu utopischem Bauen oder Ansätzen einer präfigurativen Praxis des Politischen.

Wie divers waren die Menschen, die diese Utopien entwickelt haben?
Eine gute Frage und auch eine wichtige Frage. Wir haben versucht, vielfältige Menschen und deren vielfältige Gedanken und Stimmen miteinzubeziehen. Ist uns, glaube ich, ganz gut gelungen.

Wir leben in einer Zeit, in der die äußeren Umstände uns zwingen, vieles zu ändern. Die Pandemie, der Krieg und die daraus folgende Energiepreiskrise haben Auswirkungen auf unser aller Leben, verändern es. Ist das der richtige Moment für Utopien, die ja in aller Regel nicht umgesetzt werden?
Ja, klar ist auch das der richtige Moment für Utopien. Alles andere bekommst du doch überall vorgesetzt und das verharrt vermehrt in eher technokratisch-funktionalistischen An- und Aussichten. Es sind oftmals reine Optimierungen des Bestehenden. Und gerade in diesen doch verstärkt von Pessimismus und Angst getragenen Zeiten, die eher – so der schöne und wohl passende Titel eines gerade erschienenen Buches – die Anpassung fördern, sollte man sich wieder lustvoll und grenzüberschreitend dem utopischen Denken hingeben.

Hätte man sich in so einer Lage nicht vielleicht eher auf Ideen konzentrieren sollen, die realisierbar sind?
Nein, eben nicht. Ich finde, man hätte sogar noch unwirklichere Dinge benennen und entwickeln können. Denn was uns heute zumeist als Utopien vermittelt wird, ist – beispielsweise auf die Stadt bezogen und so steht es im Magazin – oftmals nur eine Art perfekter Stadtplan, die scheinbar perfekten Bilder. Es geht aber gerade heute weniger um die perfekten Bilder, den perfekten Plan, sondern um das Unperfekte, Chaotische, Interventionistische. Eben um, mal salopp gesagt, krude Möglichkeiten in dieser kruden Wirklichkeit.

Das Meteorit Magazin ist kostenlos unter der E-Mail-Adresse alexander.flohe@hs-duesseldorf.de zu bestellen.

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