Als erstes Museum in Westdeutschland widmet der Kunstpalast Evelyn Richter (1930–2021) eine Retrospektive. Mit ihrem mehr als 50 Jahre umfassenden Werk hat sich die ostdeutsche Fotografin in hohem Maße um die Dokumentarfotografie verdient gemacht. Die Ausstellung zeigt in rund 150 Schwarz-Weiß-Aufnahmen, wie Richter als visuelle Chronistin ungeschönt und emphatisch die Arbeits- und Alltagswelten der Nachkriegsgesellschaft festgehalten hat.
2020 erhielt die Fotografin für ihr Lebenswerk den erstmals verliehenen Bernd-und-Hilla-Becher-Preis der Landeshauptstadt Düsseldorf. „Im Westen sind die Werke von Fotografinnen und Fotografen aus der DDR generell leider immer noch zu wenig bekannt“, so Felix Krämer, Generaldirektor des Kunstpalast. „Nach unserer Ausstellung Utopie und Untergang. Kunst in der DDR richten wir erneut den Blick in den Osten Deutschlands.“
Die Düsseldorfer Schau umfasst Aufnahmen aus allen Werkgruppen Richters – von den 1950er Jahren bis zur Wiedervereinigung. In den Aufnahmen werden visuelle Kommentare auf politische Verhältnisse in der DDR zeit- und systemübergreifenden Themen wie Musik, Arbeit, Kindheit, Transit und Kunstbetrachtung gegenübergestellt. „Evelyn Richter verstand ihr künstlerisch-dokumentarisches Werk in Opposition zu den politisch gewollten Bildern der DDR”, betont Linda Conze, Kuratorin und Leiterin Sammlung Fotografie, Kunstpalast.
Beginnend mit Richters Biografie gliedert sich die Ausstellung in neun Kapitel, die sich an den Themen ihrer fotografischen Langzeitprojekte orientieren. Zwei dieser Projekte nahmen 1957 in der Sowjetunion ihren Anfang. In Moskau fotografierte Richter erstmals Menschen in Ausstellungen sowie als Reisende in der Metro. Der Einsatz einer Kleinbildkamera prägte seither ihre fotografische Praxis. Situative, spontan entstandene Aufnahmen sowie serielle Momente erweiterten Richters bisheriges Schaffen von komponierten Einzelbildern. Ihr bevorzugtes Medium war der Schwarz-Weiß-Film. Selten fotografierte Richter, wie einige Dia-Positive ihrer Moskau-Reise in den 1960er Jahren belegen, auch in Farbe. Mit großem Interesse widmete sich die Fotografin fortan dem öffentlichen Leben auf Straßen und Plätzen. Richter dokumentierte nicht nur mit heimlichen Aufnahmen den Beginn des Mauerbaus 1961, sondern nahm im städtischen Raum die noch lange Zeit vorhandenen Kriegsruinen auf, wie die um 1976 entstandene Arbeit Brühlsche Terrasse, Dresden, zeigt. 1989 fotografierte sie gemeinsam mit ihren Studierenden die Montagsdemonstrationen in Leipzig. Das Ausstellungskapitel Unterwegs präsentiert Aufnahmen, die Richter zeitlebens von ihren Mitreisenden in Straßen-, S-Bahnen oder Zügen machte: in einem Zustand zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Bildnisse im Moment der kreativen Entfaltung schuf Richter vorrangig im Bereich Musik. Hier arbeitete sie oft konzeptuell in Serie, dokumentierte Bewegungsabläufe und sichtbar werdende Emotionen. Dem Geiger David Oistrach widmete sie ebenso wie dem Dirigenten Paul Dessau eigene Fotobücher. Das Bildgenre Porträt findet sich in allen Themenfeldern Richters wieder. Der Mensch in seinem situativen Umfeld steht stets im Zentrum ihrer Fotografien, wie auch die Aufnahme Chirurgin Karin Brachmann an der Universitätsklinik. Leipzig von 1989 zeigt.
Für die über drei Jahrzehnte hinweg entstandene Werkgruppe Arbeit, einem in der DDR politisch bedeutenden Bildmotiv, konzentrierte sich Richter auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Ihre Aufnahmen konzentrieren sich auf die weiblichen Werktätigen in Fabriken und Großbetrieben, wie Spinnereien oder Webereien. Für Richter blieb auch bei diesem Thema Präzision statt Pathos das bestimmende Element ihrer Bildsprache. Um 1960 gelang ihr in der Druckerei der Zeitung Neues Deutschland die ikonische Aufnahme An der Linotype.
Ebenso wie arbeitende Frauen sind im Werk von Evelyn Richter Kinder ein wiederkehrendes Motiv. Das mit dem Psychologen Hans-Dieter Schmidt erstmals 1980, in insgesamt vier Auflagen mit 100.000 Exemplaren erschienene, auch in der BRD erfolgreich verkaufte Sachbuch Entwicklungswunder Mensch zeigt Richter nicht nur als Fotografin. Als Mitherausgeberin und verantwortliche Bildredakteurin hat sie namhafte ostdeutsche Fotograf*innen wie Ursula Arnold, Sibylle Bergemann, Christian Borchert, Margit Emmrich und Helga Paris zum Mitwirken an dem Band eingeladen.
Den Rundgang der Schau beschließt das Thema Menschen in Ausstellungen. Dieses Langzeitprojekt begann Richter 1957 in der Moskauer Tretjakow-Galerie und setzte es bis zum Ende ihrer fotografischen Tätigkeit im Jahr 2013 fort. Es ist das am stärksten konzeptuell ausgerichtete Projekt der Fotografin: Sie schafft Bilder vor Bildern, denen das Publikum im Kunstpalast eine weitere Betrachtungsebene hinzufügt.
Richter lebte und arbeitete in Leipzig, das neben Berlin ein Zentrum der ostdeutschen Fotografie war. Nach ihrer Lehre bei dem Dresdener Porträtfotografen Pan Walther und ihrer Tätigkeit als technische Fotografin an der TU Dresden studierte sie von 1953 bis zu ihrer zwangsweisen Exmatrikulation 1955 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. 1981 kehrte die freiberuflich tätige Fotografin als Dozentin an die HGB zurück. Richter unterrichtete fast zehn Jahre und vermittelte ihre Bildauffassung an eine jüngere Generation ostdeutscher Fotograf:innen.
Bis 8. Januar 2023, Kunstpalast, Düsseldorf