Jennifer Daniel im Interview – „Für eine Seite benötige ich einen Tag“

Fünf Jahre hat die Düsseldorfer Illustratorin und Comiczeichnerin Jennifer Daniel an ihrer Graphic Novel „Das Gutachten“ gearbeitet. Herausgekommen ist ein Krimi, in dem sich die späten Siebziger Jahre in Deutschland ebenso spiegeln wie der damalige Generationen- und Gesellschaftskonflikt. Ab dem 17. Januar sind bei BiBaBuZe Zeichnungen aus dem Buch ausgestellt, dazu einige Fotos von Daniels lang verstorbenem Opa, die sie zu der Geschichte inspirierten. theycallitkleinparis hat mit Jennifer Daniel gesprochen.

Jennifer, 2022 ist deine Graphic Novel „Das Gutachten“ im Carlsen Verlag erschienen. Es ist eine Geschichte über die deutsche Nachkriegsgesellschaft, genau genommen geht es um den Tod einer jungen RAF-Sympathisantin, die im Sommer 1977 bei einem Autounfall stirbt. Den Anstoß zu der Geschichte gab eine Kiste mit Fotos, die du im Nachlass deines Opas gefunden. Bilder, die nicht ihren Weg in die Familienalben gefunden hatten. Was zeigen die Fotos?
Ähnlich wie der Hauptprotagonist Herr Martin in meinem Buch war mein Großvater von den Fünfziger bis in die späten Siebziger Jahre Fotoassistent am Rechtsmedizinischen Institut in Bonn. Seine Aufgabe war es unter anderem die Obduktionen fotografisch zu dokumentieren. Anschließend entwickelte er die Bilder und fügte sie dem rechtsmedizinischen Gutachten hinzu. In der besagten Fotokiste waren natürlich keine Bilder aus dem Obduktionssaal. Aber viele Schnappschüsse aus und rund um das Institut. Fotos von Kolleginnen in weißen Kitteln, von Labormäusen, von den Autos der Professoren und einige Selbstporträts meines Opas, die er von sich in seiner Dunkelkammer machte. Was mich faszinierte, war wie alltäglich manche diese Bilder wirken. Im Kontrast zu den Bildern im Familienalbum, die fast immer mit einem besonderen Erlebnis wie einem Urlaub oder Feiertag verknüpft sind. Sie wirken, als hätte mein Opa noch „schnell“ den eingelegten Film verschießen müssen, um diesen dann entwickeln zu können.

Copyright: Jennifer Daniel

Wann hast du die Fotos deines Opas gefunden, in welchem Jahr? Und wie lange hat die Arbeit an dem Buch dann in Anspruch genommen?
Diese Fotos kenne ich schon sehr lange. Aber ich habe mich erst 2017 wirklich für sie interessiert. Wenn ich sage, ich habe fünf Jahre an meiner Graphic Novel gearbeitet, sind viele erst mal schockiert. Natürlich ist es aufwendig, erst die umfangreiche Recherche, dann das Schreiben der Geschichte, das Entwickeln und Skizzieren der einzelnen Charaktere und dann die zeichnerische Umsetzung der Comicseiten. Natürlich habe ich nicht fünf Jahre am Stück daran gearbeitet. Es gab immer wieder längere Pausen, in denen ich meinem eigentlichen Brotjob als Illustratorin nachgegangen bin. Aber zur Orientierung: Allein für die zeichnerische Umsetzung einer Comicseite benötige ich etwa einen Arbeitstag – und „Das Gutachten“ hat knapp 200 Seiten.

Wie schnell war dir klar, dass die Bilder der Ausgangspunkt für ein künstlerisches Projekt sein würden?
Ursprünglich war nur ein Foto der Auslöser für dieses Projekt. Das Bild zeigte meinen Großvater an seinem Schreibtisch im weißen Kittel, neben ihm sein vorgesetzter Professor im karierten Sportsakko. Der Professor hat meinem Großvater kumpelhaft den Arm auf die Schulter gelegt, beide gucken in die Kamera. Um sie herum erkennt man ein typisches Siebziger-Jahre-Büro – Holzvertäfelte Wände, Aschenbecher und Bakelit-Telefon. Das Bild ist auf der Rückseite mit dem Jahr 1977 datiert. Ich hatte das Foto zufällig ausgewählt und 2017 zu einem Workshop bei der deutschen Comickünstlerin Birgit Weyhe mitgenommen. Erst im Workshop kam mir die Idee, dass dieser Ort und diese Zeit einfach eine perfekte Ausgangssituation für eine Kriminalgeschichte ist. Dabei war es mir wichtig, nicht nur einen spannenden Plot zu schreiben, sondern auch möglichst authentisch und fühlbar die Stimmung der späten Siebziger in Bonn wiederzugeben. Hierzu habe ich viele der Orte, die mein Großvater fotografiert hat, sowie persönliche Familienerinnerungen in meine Graphic Novel einfließen lassen und mit historischen Ereignissen verbunden.

Wie war dein Verhältnis zu deinem Opa?
Er starb, als ich vier Jahre alt war, und erst mit meiner Arbeit an meinem Comic habe ich mich bewusst mit ihm auseinander gesetzt. Ich habe angefangen, meine Familie nach ihm zu befragen. Interessanterweise war das nicht so ergiebig, wie ich gehofft hatte. Mein Großvater war ein typischer Vertreter der Kriegsversehrten-Generation. Über vieles wurde nicht gesprochen, Erlebtes wurde verdrängt.

Copyright: Jennifer Daniel

Zwischen deinem Protagonisten Herrn Martin, einem Angestellten in der Rechtsmedizin, und deinem Opa gibt es durchaus biografische Übereinstimmungen. Trotzdem möchtest du mit „Das Gutachten“ keine Familiengeschichte erzählen. Warum lieber Fiktion?
Das Schweigen meiner Großeltern hat eine Familiengeschichte mit vielen Lücken hinterlassen. Je mehr ich mich mit ihnen und der Nachkriegszeit auseinandersetzte, desto präsenter wurde für mich das Thema der verdrängten Schuld. Herr Martin steht nicht nur für meinen eigenen Großvater, sondern für eine ganze Generation, die statt über ihre Schuld zu sprechen versuchte, diese im Alkohol zu ertränken. Was mich an einer fiktionalen Geschichte wie einem Krimi aber zusätzlich reizte, ist, dass der Leser aktiv nach einem Täter sucht. Die Frage „Wer ist schuld?“ erzähle ich in meiner Geschichte auf mehreren Ebenen. Sei es bei der Suche nach Miriam Beckers Mörder oder den Kriegsverbrechen, die Herrn Martin in Form von Alpträumen immer wieder heimsuchen. „Das Gutachten“ ist keine autobiografische Geschichte, aber eine, mit der sich viele Familien identifizieren können.

„Das Gutachten“ ist ein Krimi, in dem sich die späten Siebziger Jahre in Deutschland ebenso spiegeln wie der damalige Generationen- und Gesellschaftskonflikt. Du selbst bist Jahrgang 1986. Was interessiert dich an der Zeit beziehungsweise inwiefern haben die erwähnten Konflikte vielleicht auch Auswirkungen auf deine eigene Familie gehabt?
Es ist der Generationenkonflikt, der mich hier am stärksten beschäftigt hat. Denn vor den gewaltsamen Anschlägen hatte die RAF die gleichen Ziele wie die Studentenbewegung der Sechziger Jahre. Sie kritisierten die Elterngeneration für ihre Taten während des zweiten Weltkriegs, protestierten gegen den Kapitalismus und stellten die Existenz des bürgerlichen Staats infrage. Die Studentin Miriam Becker sympathisiert wie viele ihrer Kommiliton:innen zur damaligen Zeit, mit der RAF-Bewegung der ersten Generation, sie ist aber keine aktive Unterstützerin. Genauso wie der Kriegsversehrte Herr Martin die Elterngeneration repräsentiert, steht Miriam Becker für die junge Generation, die sich gegen alte Machtstrukturen auflehnt. Die Konflikte dieser Zeit waren auch in meiner Familie präsent, wurden aber weniger stark ausgetragen als in meiner Geschichte. Was ich zudem interessant finde, ist, dass wir aktuell wieder eine Jugendbewegung haben, die uns als Gesellschaft den Spiegel vorhält. Und einen Krieg, der Männer dazu zwingt, zur Waffe zu greifen.

Die Ereignisse in „Das Gutachten“ nehmen am 1. Juli 1977 ihren Auftakt. Wie muss man sich die politische Situation in Deutschland zu dem Zeitpunkt vorstellen?
Meine Geschichte spielt nur wenige Monate, bevor der Terror der RAF seinen Höhepunkt erreicht. Eine Phase, die sich mit „Ruhe vor dem Sturm“ beschreiben lässt. Die Köpfe der ersten RAF-Generation sitzen im Hochsicherheitsgefängnis in Stuttgart. Und während Helmut und Loki Schmidt Prominente aus Pop und Politik zum alljährlichen Kanzlerfest einladen, lasse ich meinen Protagonisten Herrn Martin in sein Unglück laufen. Der Zweite Weltkrieg liegt derweil einige Jahrzehnte zurück, doch viele der Machtpositionen sind nach wie vor von ehemaligen Nazis besetzt. Dazu kommt eine Jugend, die nicht über die Taten ihrer Eltern aufgeklärt wurde und mit sprichwörtlicher Gewalt beginnt, das Schweigen ihrer Elterngeneration zu brechen.

Wie bist du bei der Arbeit an „Das Gutachten“ genau vorgegangen? Du hast ja die gefundenen Fotos als Vorlage für deine Zeichnungen genommen.
Ich vermute, die Frage zielt drauf ab, ob ich für jedes Bild in meinem Comic eine Fotovorlage hatte? So ist das natürlich nicht. Mein Stil ist nicht fotorealistisch, ich achte nicht auf die richtige Perspektive oder anatomisch-korrekte Charakterdarstellungen. Ich arbeite vor allem mit Komposition und Farbe. Das hat zum einen damit zu tun, dass ich als Illustratorin viel für Magazine zeichne. Und zum anderen habe ich mich immer mehr für die Comics interessiert, die nicht mit der klassischen schwarzen Outline, der sogenannten Ligne claire, gezeichnet wurden. Die Farben spielen bei mir immer eine große Rolle. Bei „Das Gutachten“ war es mir wichtig, über die Farbpalette die Ästhetik der Zeit und damit das Gefühl der späten Siebziger zu transportieren. Ich habe mir dafür eine feste Farbpalette zusammengestellt und je nach Szene kommen manche Farben stärker zum Einsatz. Meine Graphic Novel ist am Computer entstanden. Und obwohl es eine digitale Arbeit ist, lasse ich die Leser glauben, dass es sich hierbei um einen Mix aus Aquarell- und Gouachezeichnungen handelt. Tatsächlich gab es zu Beginn die Idee, die 200 Seiten analog mit Pinsel und Papier zu zeichnen, aber das digitale Arbeiten bringt einige Vorzüge mit sich. Vor allem bin ich am Computer schneller.

Am 17. Januar startet nun eine Ausstellung mit deinen Arbeiten bei BiBaBuZe. Was erwartet die Besucher:innen?
Die Ausstellung wird um 19 Uhr mit einer Comiclesung eröffnet. Die Besucher:innen bekommen sozusagen eine kleinen Vorgeschmack auf „Das Gutachten“ und können mir Fragen stellen. Außerdem zeige ich im Ausstellungsraum nicht nur die Zeichnungen aus meinem Buch, sondern auch ein paar der Fotos meines Opas, die mich zur Geschichte inspirierten.

„Das Gutachten“ ist ja nicht dein erstes Buch. Bereits 2012 erschien dein Erstling „Earth unplugged“. Welchem Thema hast du dich damals gewidmet?
„Earth unplugged“ entstand damals als Abschlussarbeit meines Studiums. Zu dieser Zeit war ich sehr fasziniert von Endzeit-Science-Fiction und Aussteiger-Literatur, wie „Die Wand“ von Marlene Haushofer oder „Walden“ von Henry David Thoreau. Ich stellte mir damals die Frage, wie unsere Welt ohne Strom aussehen würde. Und versuchte die Frage statt der typischen Katastrophendarstellungen mit leisen Bildern zu beantworten. So entstanden zwei Erzählebenen. Die junge Frau, die durch einen Total-Black-Out ihre bisher fremde Nachbarin kennenlernt, und die Heldin, die mit ihrem Raumschiff abstürzt und zurück zur Natur findet. Auch fast zehn Jahre nach der Veröffentlichung mag ich diese Arbeit noch sehr. Einerseits, weil ich das Thema nach wie vor spannend finde, aber auch, weil sich mir durch die Veröffentlichung ein neuer kreativer Weg eröffnet hat. Sich in Form des Comics auszudrücken und dabei frei und künstlerisch zu arbeiten, das schätze ich seither sehr. Dafür bin ich Annette Köhn vom jaja Verlag, der mein Debüt veröffentlicht hat, sehr dankbar.

Woran arbeitest du gerade und was hegst du für 2023 für Pläne?
Ich arbeite an einer neuen Geschichte mit dem Arbeitstitel „Unser Erbe“. Ich habe aus meiner letzten Graphic Novel viel gelernt. Was mir Spaß macht. Was mir gut gelingt. Während „Das Gutachten“ eine sehr männliche Perspektive erzählt, schreibe ich gerade an einer Geschichte, die sich ebenfalls wie ein „Who done it“ liest, aber das Leben einer Frau und ihrer Tochter erzählt.

Ausstellung Jennifer Daniel: 17.1. bis 17.3., BiBaBuZe, Aachener Str. 1, Düsseldorf

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