Der Gast-Arbeiter. Tibor Irlich

In der Gastronomie werden Leute gesucht, viele Leute. Vor allem aber: gute Leute. Solche wie Tibor Irlich. Seit knapp drei Jahren kellnert der 24-Jährige im Café Rekord in Flingern. Eine Begegnung.

Ein später Montagnachmittag in Flingern. Tibor hat Kopfschmerzen. Aber natürlich lässt er sich – Profi, der er ist – nichts anmerken. Er wirkt vielmehr, als käme er gerade aus einem Yoga Retreat. Gesunder Teint, die rot-blonden Locken zum Dutt gebunden. Kurze Cargo-Hose, gemustertes Hemd, Sneakers. So steht er hinter der Theke, die Außenterrasse vor dem Fenster fest im Blick. Der letzte freie Tisch wird gerade von Neuankömmlingen in Beschlag genommen, zwei Damen besten Alters. Tibor wartet, bis sie sich niedergelassen haben und nähert sich dann beschwingten Schrittes ihrem Tisch. Lächelt. „Hallöchen.“ Er geht in die Knie, genau so weit, bis er mit den Gästen auf Augenhöhe ist. Offener Blick: „Was darf ich euch denn bringen?“ Spätestens jetzt würde man sich alles von ihm servieren lassen. Auch Hühnerfüße. Oder Lebertran. Nach kurzer Rücksprache ist die Entscheidung bei den Damen gefallen: Zwei Campari Orange wären perfekt, um den Feierabend einzuläuten. Ist schließlich schon halb sechs. Offiziell schließt das Rekord um 18 Uhr, aber wenn so viele Gäste da sind wie an diesem lauen Montagabend bleibt die Terrasse auch mal länger geöffnet. Flexibilität gehört in der Branche dazu.

Tibor arbeitet montags normalerweise nicht. Aber natürlich ist er flexibel. Wenn Rekord-Inhaber Markus Berndt ihn kurzfristig braucht, ist er meist zur Stelle. Auch davon abgesehen bringt der 24-Jährige alles mit, was einen guten Kellner ausmacht: Belastbarkeit, Freundlichkeit, Menschenkenntnis und vor allem Spaß daran, seinen Gästen eine gute Zeit zu bereiten. Das ist nämlich Tibors erklärtes Ziel. Die Branche, in die es ihn eher zufällig verschlagen hat – ursprünglich studierte er mal Biologie, später Chemie – hat spätestens seit Corona ein gewaltiges Imageproblem. Unregelmäßige Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung, eine körperlich und mental anstrengende Tätigkeit – auf all das möchten sich mittlerweile nicht mehr viele Arbeitnehmer:innen einlassen. Bis zu 50.000 Kräfte fehlen in Gastronomie und Hotellerie in NRW, so schätzt man beim Branchenverband DEHOGA. Ein Mann wie Tibor ist also Gold wert. Weil er freundlich ist, ohne anbiedernd zu sein. Aufmerksam, ohne zu nerven. Wenn man so will: der perfekte Gastgeber.

Tibors Arbeitsplatz liegt am hinteren Ende der Ackerstraße, dort, wo Flingern fast schon in Grafenberg übergeht. Das Café Rekord hat vor einigen Wochen seinen 15. Geburtstag gefeiert. Personal zu finden, war nie leicht, aber seit Corona ist es fast unmöglich geworden, weiß Inhaber Markus Berndt, der an diesem späten Nachmittag kurz mit seinem vierjährigen Sohn im Café vorbeischaut. „Zwei, drei zusätzliche Leute könnten wir hier locker gebrauchen“, seufzt Berndt. Derzeit besteht das Team des Rekord aus gerade einmal fünf Mitarbeitenden, Chef bereits eingerechnet. Es gibt Tage, an denen das Café wegen Personalmangel geschlossen bleiben muss. Wenn niemand kurzfristig absagt, ist werktags ab 8:30 Uhr geöffnet. Vorher müssen noch Einkäufe fürs Café getätigt werden.

Tibor ist mittlerweile hinter die Theke zurückgeeilt, um Orangen zu pressen. Den Saft versetzt er mit etwas Wasser und schüttet vorsichtig Campari aus einem kleinen Pinnchen dazu. Orange und rote Flüssigkeit vermischen sich – und stehen kurz darauf schon auf dem Tisch der durstigen Damen. „Zum Wohle.“ Ob die beiden heute zum ersten Mal da sind oder regelmäßig kommen, ist dem Umgang miteinander nicht zu entnehmen. Weil Tibor jeden Gast gleich behandelt. Wie einen Freund. Oder wie eine Freundin.

Nächste Bestellung: ein Club-Sandwich. Spiegelei mit Tomaten und Käse überbacken auf Toast. Vorher gilt es aber noch den Wassernapf zu finden. Mittlerweile ist nämlich ein kniehoher Vierbeiner mit milchkaffeefarbenem Fell eingetroffen, auch er will versorgt sein. Tibor taucht unter die Spüle – und wird dort fündig. Er reicht die Schale an seine Kollegin Frida weiter, die sie mit Wasser befüllt. Jetzt aber: Club-Sandwich. Eine Küche gibt es im Café Rekord nicht. Die Handvoll Gerichte, die auf der großen Tafel notiert sind, werden im Gastraum hinter der Theke zubereitet. Ein Sandwichmaker. Eine Mikrowelle. Die Kaffeemaschine. Eine einzelne Herdplatte. Viel mehr Equipment gibt es nicht. Obwohl: „Am Wochenende haben wir noch eine zweite Herdplatte im Einsatz“, lacht Tibor, während er Tomaten in Scheiben schneidet. „Tibor, ganz kurz, Tisch vier möchte zahlen.“ Der Einwurf kommt von Frida. Die Schülerin ist erst seit zwei Wochen Teil des Service-Teams und hat natürlich noch viele Fragen. „Bis jemand richtig drin ist, dauert es bestimmt drei, vier Wochen. Ich glaube, bei mir war es damals noch länger“, erklärt Tibor – und hat doch Tisch vier nicht vergessen: „13,20 Euro.“ Kurz danach geht das Club-Sandwich raus. Und auf der Herrentoilette ist auch noch etwas im Argen. Tibor kümmert sich, auch darum.

Die Bestellungen der Gäste notiert sich der Kellner nicht. Hat er alles im Kopf. Erstaunlich genug bei neun Tischen auf der Terrasse und genauso vielen im Innenraum. Fehler unterliefen ihm dennoch relativ selten, sagt Tibor. Ein, zwei Mal pro Schicht könne es aber passieren, dass ein Gast etwas serviert bekommt, was er nicht bestellt hat. Wird dann natürlich korrigiert. Grundsätzlich sei es auch in Ordnung, wenn Gäste Kritik übten. Es könne ja durchaus mal passieren, dass ein Kaffee, aus welchen Gründen auch immer, misslingt. „Dann macht man halt einen neuen. Oder der Gast muss ihn nicht bezahlen.“ Die Atmosphäre in dem Flingeraner Café ist ohnehin familiär. Man ist beim Du. Viele Gäste wohnen in der Nachbarschaft und kommen mehrmals in der Woche ins Rekord. Bei Stammgästen muss Tibor gar nicht erst nach ihren Wünschen fragen. Weil er sie kennt. Manch einem hat er auch schon jenen Drink empfohlen, an dem er selbst gerade nippt: einen Espresso Tonic auf Eis. Seine Begeisterung teilen konnten allerdings nicht alle: „Ist ja auch sehr bitter.“ Ein weiblicher Gast steht mit gezücktem Portemonnaie vor der Theke. „Du möchtest zahlen? 7,10 Euro hätten wir.“ Die junge Frau kramt in ihrer Börse, kommt aber nur auf sieben Euro. Im Rekord ist nur Bares Wahres. Kartenzahlung wird nicht akzeptiert. Sie verspricht also, leicht peinlich berührt, die zehn Cent gleich noch vorbeizubringen. „Mach dir keinen Stress, nicht wegen zehn Cent“, sagt Tibor.

Seit knapp drei Jahren arbeitet er mittlerweile im Rekord. In der Zeit hat er 20 bis 30 Kolleg:innen kommen und gehen sehen. Viele waren mit dem Arbeitsaufwand überfordert. Gastronomie ist ein Knochenjob. Tibor zuckt die Schultern. Er selbst ist trotz seiner jungen Jahre bereits ein alter Hase im Geschäft. Gelernt hat er sein Handwerk in der Eventagentur ZackBumm, später wechselte er in Ulli Sylvesters Catering-Service – und blieb zwei Jahre. Ullis Sohn Janot war es 2020 auch, der ihn ins Rekord holte. „Wir brauchen hier noch Leute“ hieß es – und Tibor folgte dem Ruf. Mittlerweile hat Janot dem Café auf der hinteren Ackerstraße den Rücken gekehrt – und seine eigene Gastronomie eröffnet: das Janot’s Bar & Café auf der Flurstraße. Perspektivisch könnte auch für Tibor die Selbständigkeit eine Option sein. Derzeit traut er sich den Schritt allerdings noch nicht zu: „Mit dem ganzen Papierkram habe ich ja überhaupt keine Erfahrung.“ Seiner Mutter wäre es ohnehin lieber, er würde sich beruflich noch mal neu orientieren.

Vorerst bleibt er also dem Rekord treu. 40 bis 50 Stunden arbeitet er dort pro Woche. Sein Stundenlohn beträgt 12,50 Euro, 20 Prozent Trinkgeld kommen im Schnitt oben drauf. Das Tip wird im Rekord traditionell unter den Bedienenden aufgeteilt. Tibor findet das in Ordnung: „Ich habe es so gelernt. Damit sind wir alle glücklich.“ Grundsätzlich habe er, was Trinkgeld angeht, keine Erwartungshaltung, erklärt er, aber die Gruppe, die vor einigen Tagen da war, über die habe er sich doch ein bisschen geärgert. Die besagten Gäste blieben lang und konsumierten viel. Am Ende stand eine Rechnung von über 150 Euro gegenüber einem Trinkgeld von zwei oder drei Euro.

Mittlerweile ist es halb acht geworden. Nach einem guten Tag im Rekord hat Tibor, er hat das mal getrackt, 15 bis 20 Kilometer in den Beinen. Den Gästen auf der Terrasse ist das natürlich nicht bewusst. Sie haben ob der lauen Sommerluft immer noch gutes Sitzfleisch. Der Hund mit dem Milchkaffeefell hat das Wasser ausgeschlabbert und schläft – alle Viere von sich gestreckt – unter dem Tisch den Schlaf der Gerechten. Natürlich wäre Tibor der Letzte, der jetzt einfach zuschließen würde. Bis gerade eben hat er noch Tassen und Teller aus der Spülmaschine geräumt und abgetrocknet. Der Putzlappen scheint ohnehin mit seiner Hand verwachsen zu sein, ständig ist er dabei, irgendetwas abzuwischen. Nun zählt er, Geschirrtuch über der Schulter, die Tageseinnahmen. Als wir uns verabschieden, schenkt er uns noch einmal sein schönstes Tibor-Lächeln: „Tschüssi, hat Spaß gemacht.“ Allerletzte Frage: Wie sieht sein Feierabend nach zehn, elf Stunden im Rekord aus? Menschen wolle er dann doch vermutlich nicht mehr sehen? Er nickt bestätigend: „Meine soziale Batterie ist dann ziemlich leer.“ Er koche sich gleich noch was Schönes. Und gehe dann früh „ins Bettchen“. Er sagt das wirklich so, „ins Bettchen“.

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