Michael Jonas fotografiert sich seit 12 Jahren in High Heels, Negligées und Miniröcken. Dabei möchte er weder eine Frau sein noch als solche wahrgenommen werden. Was ihn bei dem Projekt interessiert ist vielmehr die Wechselwirkung zwischen männlich und weiblich. Aus 11.000 Fotos, die im Laufe der Jahre entstanden sind, hat er einige ausgesucht, die er noch bis zum 7. Oktober im Friseursalon Heaven 7 in Düsseldorf zeigt. Kurz nach der Vernissage ebenda hat theycallitkleinparis mit Jonas gesprochen.
Michael, du fotografierst dich seit vielen Jahren in Frauenkleidern. Wann und wie entstand die Idee?
Das Projekt begann 2011. Meine Frau Norika hat mich damals für eine Karnevalsparty als Krankenschwester verkleidet. Die Party fand im WP8 am Worringer Platz statt. Als ich dort verkleidet auftauchte, geschah etwas Merkwürdiges: Die anwesenden Männer haben mich in dem Kostüm nicht mehr wie einen Mann behandelt, sondern mich als Frau wahrgenommen. Das ging sehr weit, ich wurde regelrecht angemacht, auch von Männern, die mich kannten. Mich hat das damals ziemlich schockiert. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als das Kostüm abzulegen, mich wieder in mich selbst zu verwandeln. Nach diesem Erlebnis habe ich die Situation dann zuhause rekonstruiert, um sie fotografisch zu dokumentieren. Ich wollte sehen, was die Männer im WP8 gesehen habe, ich wollte den Moment einfangen, in dem ich nicht mehr ich bin. Deshalb habe ich angefangen, mich in Frauenkleidern zu fotografieren. Bis heute habe ich das Phänomen nicht vollständig ergründet. Sonst würde ich aufhören, die Bilder zu machen.
Du fotografierst dich selbst, mit dem Fernauslöser und immer in dem gleichen Raum.
Meistens stehen die Kamera und ich vor einem Spiegel, sodass ich meine Posen im Spiegel sehen kann. In dem Moment, in dem ich glaube, die andere Person, ich nenne sie Anita, im Spiegel zu sehen, drücke ich ab. Die Kamera fotografiert dann das Spiegelbild. Die Fotos sind fast alle bei mir zuhause entstanden, in meinem Wohnatelier. Das ist ein großer Raum mit einer Küchenzeile. Die Einrichtung ist also die Kulisse. Wenn ich die Kulisse verändern will, muss ich die Einrichtung ändern.
Spielt es eine Rolle, dass du die Bilder selbst aufnimmst?
Das mache ich in erster Linie, weil es mir peinlich wäre, dabei gesehen zu werden. Wenn ich alleine bin, ist es okay.
Aber wenn Betrachter:innen sich die Bilder anschauen, ist dir das nicht peinlich?
Nein, die Bilder zeigen ja eine Figur. Das bin nicht ich. Das ist eine Frau, die es nicht gibt, und die von mir gespielt wird.
Wie waren die Reaktionen auf die Bilder, zum Beispiel von befreundeten Künstler:innen?
Um ehrlich zu sein, kamen anfangs gar keine Reaktionen. Keine Ablehnung. Aber auch keine Begeisterung. Das fand ich seltsam. Ich bin dann irgendwann hingegangen und habe Freund:innen gefragt, was sie davon halten. Häufig habe ich dann gehört: „Kann ich nichts mit anfangen.“ Die, die den Bildern etwas abgewinnen konnten, waren genauso wie ich von dem Wechselspiel zwischen männlich und weiblich fasziniert.
Du hast eingangs gesagt, dass du die Reaktionen der Männer im WP8 nachvollziehen wolltest. Ist dir das denn gelungen?
Ja, irgendwann schon. Es hat eine Weile gedauert. Ich habe ein bisschen rumprobiert, Posen getestet, so wie ich das auf der Karnevalsparty im WP8 auch gemacht hatte. Ich hatte und habe kein Interesse daran, weiblich zu sein oder als Frau wahrgenommen zu werden. Was mich fasziniert, ist die Tatsache, dass ich mich lediglich durch das Anlegen von ein paar Kleidungstücken in ein anderes Wesen verwandeln kann. Dabei ist mir die Wechselwirkung total wichtig. Die Figur auf den Bildern soll nicht zu weiblich aussehen. Man soll zumindest auf den zweiten Blick erkennen, dass es sich um einen Mann handelt.
Das Projekt läuft seit 13 Jahren. Wie viele Fotos sind in dem Zeitraum entstanden?
Über 11.000. Ich nummeriere sie alle durch, auch die, die nichts geworden sind. 95 Prozent der Bilder existieren nur als digitale Daten, ungefähr fünf Prozent lasse ich ausdrucken. Und aus den ausgedruckten suche ich dann die aus, die ich im Rahmen von Ausstellungen zeige.
Ausstellungen ist ein gutes Stichwort. Wo waren die Bilder bisher zu sehen?
Ich war an mehreren Gruppenausstellungen beteiligt, zum Beispiel im WP8, in einer Galerie in der Altstadt und bei plan d. Und im Rahmen der „Kunstpunkte“ habe ich immer was gezeigt. Momentan hängen neun Aufnahmen im Heaven 7 in Flingern. Das ist ein Friseursalon mit angeschlossenem Café, in dem regelmäßig Ausstellungen und Veranstaltungen stattfinden.
Auf den Bildern trägst du kurze Röcke, Negligées oder zerrissene Nylon-Strumpfhosen. Woher kommen die Kleidungsstücke?
Ungefähr die Hälfte kommt von meiner Frau, der Rest vom Flohmarkt.
Und wie reagieren die Verkäufer:innen auf dem Flohmarkt, wenn du als Mann Frauenkleidung kaufst?
Anfangs habe ich mich furchtbar gescheut, mir die Sachen überhaupt nur anzuschauen. Irgendwann habe ich mich dann aber überwunden – und auch Sachen gekauft. Was ich damit mache, hat nie jemand gefragt. Das hat niemanden interessiert. Während mir die Kleidung oft gut passt, ist es bei Schuhen schwieriger. Es gibt keine Frauenschuhe in meiner Größe. Ich trage 45. Ich muss die Schuhe also umbauen, aufschneiden. Das sieht man auf den Fotos auch manchmal, dass die viel zu klein sind. Deshalb haben die Sessions mit Schuhen, die gar nicht passen, auch immer nur 15 bis 20 Minuten gedauert, weil es irgendwann einfach zu schmerzhaft wurde.
Seit Anfang 2023 hast du auch einen Instagram-Account, auf dem du die Bilder zeigst. Wie viele Follower:innen hast du?
Nicht viele. 70 vielleicht. In erster Linie sind das Künstler:innen-Freunde. Da sind allerdings auch Leute dabei, die Instagram nutzen, um sexuelle Kontakte zu knüpfen. Das sind meistens junge Transsexuelle. Die würden gerne mit mir chatten. Aber daran habe ich kein Interesse.
Parallel zu den Fotografien in Frauenkleidung hast du auch begonnen, Tagebuchaufzeichnungen zu machen. Etwa 200 Seiten kommen da jeden Monat zusammen. Was hältst du in deinen Aufzeichnungen fest?
Ausgangspunkt der Texte sind meistens Erlebnisse mit Leuten, Gespräche, die ich geführt habe. In der Folge beginnt dann ein freies Assoziieren und ein Zusammenführen mit Informationen, die ich habe. Und dieses Assoziieren schreibe ich praktisch mit, handschriftlich, immer mit Bleistift. Dadurch ist das Denken ein bisschen verlangsamt und strukturierter, als wenn man nur denkt. Die Texte münden häufig in ein nicht endendes Lamento, in eine Beschwerde über herrschende Missstände. Für mich ist das ein Entlasten. Ich entlaste mich durch das Schreiben.
Welche Missstände thematisierst du zum Beispiel?
Den Klimawandel. Soziale Ungerechtigkeiten. Den Krieg in der Ukraine. Dinge, die in den Medien sind und viele Menschen beschäftigen. Ich notiere mein persönliches Entsetzen.
Bei der Ausstellungseröffnung im Heaven 7 hast du aus deinen Tagebuchtexten vorgelesen. Ein Tagebuch schreibt man ja gemeinhin nur für sich selbst. Musstest du dich überwinden, das öffentlich vorzutragen?
Ja, natürlich. Zwei Drittel der Tagebuch-Texte würde ich niemals vorlesen. Weil das zu privat ist, vielleicht auch zu drastisch. Aus dem restlichen Drittel suche ich dann Texte aus.
Noch mal zurück zu den Fotos. Warum hast du für die Figur, die du spielst, den Namen Anita ausgewählt?
Oh, das ist eine eigene Geschichte. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich meine Ferien in einem Dorf verbracht und dort ein Mädchen kennengelernt. Sie hieß Anita. Das war der Moment, in dem ganz ganz zaghaft die Sexualität erwachte – also nur im Kopf. Wir haben uns nicht angefasst oder gar geküsst – Anita und ich. Ihre Eltern haben dann ganz schnell den Kontakt unterbunden. Ich habe das damals gar nicht verstanden, wieso ich mit meiner neuen Freundin nicht mehr spielen durfte. Das ist mir erst viel später klar geworden. Als ich für meine Foto-Figur einen Namen suchte, fiel mir dieses Erlebnis wieder ein. Deshalb heißt die Figur Anita.
Michael Jonas: Anita, bis 7.10. Heaven 7, Grafenberger Allee 145, Düsseldorf
Auf Instagram findet man die Bilder von Michael Jonas unter anitajones904.