Hanna Melnykova stammt aus Charkiw. Dort, in der zweitgrößten Stadt der Ukraine, hat die Fotografin fast ihr ganzes Leben verbracht. Während des russischen Angriffskriegs ist sie nach Deutschland gekommen, derzeit lebt sie in Düsseldorf. Von hier aus ist sie vor Kurzem in die Ukraine zurückgefahren – und hat ihre Reise fotografisch dokumentiert. Nach Hannas Rückkehr hat theycallitkleinparis mit ihr gesprochen.
Hanna, du bist vor einigen Wochen von Düsseldorf nach Charkiw gereist. Was war der Grund für deine Reise?
Meine Eltern leben noch in der Ukraine. In einer Kleinstadt in der Nähe von Charkiw. Mein Vater darf das Land seit Beginn des Kriegs nicht mehr verlassen. Er ist noch in einem Alter, wo er eingezogen werden könnte. Deshalb sind sie geblieben.
Charkiw ist deine Geburtsstadt. Du hast fast dein gesamtes Leben dort verbracht. Selbst nach dem Beginn des Kriegs hast du die Stadt nicht sofort verlassen. Warum nicht?
Als der Krieg begann, stand ich unter Schock. Ich wollte nicht glauben was passiert war. Es dauerte ungefähr einen Monat, bis ich die Situation realisiert hatte. Dann habe ich wieder begonnen, zu arbeiten. Als Fotografin habe ich alles dokumentiert, ich habe die Zerstörung festgehalten. Mit den Fotos habe ich verschiedene Redaktionen beliefert.
Drei Monate nach Kriegsbeginn hast du Charkiw aber dann doch verlassen.
Ja. Ich bekam eine Einladung in das Künstlerdorf Schöppingen im Münsterland, um an einem meiner Projekte zu arbeiten. Ich habe mich entschieden, die Einladung anzunehmen, weil ich wissen wollte, ob ich noch Kunst machen kann, die nichts mit dem Krieg zu tun hat. Und ob ich immer noch mit Menschen kommunizieren kann. Die Reise von Charkiw nach Schöppingen war sehr beschwerlich. Sie hat vier Tage gedauert. Ich war alleine unterwegs, nur mein Hund Gavrila hat mich begleitet. In Schöppingen anzukommen, war zunächst merkwürdig. Ich hatte ja völlig vergessen, wie ein normales Leben funktioniert. Anfangs habe ich mit den Fotos experimentiert, die ich in Charkiw gemacht hatte. Ich probierte unterschiedliche Printtechniken und Farben aus. Später habe ich dann für ein Festival eine Mix-Media-Arbeit aus Sound und analoger Fotografie realisiert. Meine Residenz im Künstlerdorf dauerte ein halbes Jahr. Während dieser sehr ruhigen Zeit habe ich über viele Dinge nachgedacht und mich entschieden, vorerst in Deutschland zu bleiben. Momentan wohne ich bei Freunden in Düsseldorf-Eller. Ich suche aber eine eigene Wohnung.
Lass uns über deine Reise nach Charkiw sprechen! Eine weite Strecke. Von Düsseldorf aus sind es fast 2600 Kilometer. Wie lange warst du unterwegs?
Die reine Reisezeit betrug 35 Stunden. Von Düsseldorf aus bin ich erst mal mit dem Flixbus nach Lwiw gereist, das ist ganz im Westen der Ukraine, kurz hinter der polnisch-ukrainischen Grenze. Bis dahin habe ich 22 Stunden gebraucht. Von dort aus ging es dann mit dem Zug weiter bis Charkiw, noch mal 13 Stunden. Die Tickets sind ziemlich günstig. Bis Lwiw habe ich 75 Euro bezahlt. Für das Zugticket nach Charkiw dann noch mal ungefähr 30 Euro.
Ich bin total überrascht, dass Flixbusse in einem Land verkehren, das sich im Kriegszustand befindet. Wie viele Verbindungen gibt es?
Es gibt verschiedene Optionen, nicht nur mit dem Flixbus. Düsseldorf ist ja eine große Stadt, in der mittlerweile viele Ukrainer:innen leben. In den entsprechenden Foren im Netz findet man übrigens auch Mitfahrgelegenheiten. Mir erschien es aber sicherer, mit dem Bus zu fahren als mit dem Auto, deshalb habe ich mich dafür entschieden.
Reisen viele Ukrainer auf diesem Wege in ihr Land?
Die Busse sind eigentlich immer voll. So auch diesmal. Es reisten in erster Linie ukrainische Frauen jenseits der 55 mit, dazu ein paar alte Männer. Es war aber auch eine ältere Deutsche an Bord. Sie sprach kein Ukrainisch, deshalb habe ich für sie übersetzt, wenn der Busfahrer Durchsagen gemacht hat – bei Zwischenstopps zum Beispiel. Der Grund für ihre Reise hätte mich sehr interessiert. Leider ist mein Deutsch noch nicht gut genug, als dass wir uns darüber hätten unterhalten können. Aber ich habe gesehen, dass sie auf dem Mobiltelefon nach Unterkünften in der Ukraine geschaut hat.
Wie muss man sich die Atmosphäre im Bus ansonsten vorstellen? Sprechen die Reisenden viel miteinander?
Mittlerweile nicht mehr so viel. Als der Krieg gerade begonnen hatte, war das anders, da wurde viel gesprochen. Weil die Menschen frustriert waren und ängstlich. Mittlerweile haben sie sich an die Situation gewöhnt. Wenn sie sich unterhalten, geht es eher um die Situation als Geflüchtete:r oder darum, wie die Zukunft aussehen könnte.
Gab es auf deiner Reise heikle Situationen?
Sobald du auf ukrainischem Boden bist, kann natürlich jederzeit etwas passieren. Als ich kurz nach Kriegsbeginn von Charkiw nach Deutschland reiste, hatte zum Beispiel mein Zug wegen Explosionen zwei Stunden Verspätung. Bei meiner letzten Reise in die Ukraine hatte unser Bus einen Unfall. Es ist niemandem etwas passiert, aber die Busfahrer mussten erst mal einen Ersatzbus organisieren, damit die Reise weitergehen konnte.
Wie muss man sich die Kontrollen an der polnisch-ukrainischen Grenze vorstellen?
Ähnlich wie am Flughafen. Pässe werden kontrolliert. Das Gepäck durchleuchtet. Diesmal ging es ziemlich schnell, es hat höchstens eine Stunde gedauert.
Wie würdest du jemandem, der Charkiw nicht kennt, die Stadt beschreiben?
Früher war Charkiw mal die erste Hauptstadt der Ukraine. Man kann das immer noch an der Architektur erkennen. Die Stadt wurde ein Symbol des Modernismus. Es ist eine Studentenstadt, eine Stadt der teuren Autos, Fabriken und Parks. Und es gibt zahlreiche Künstler:innen in der Stadt – und viele Galerien. Nach Kiew ist Charkiw die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Vor dem Krieg lebten hier 1,5 Millionen Menschen. Nach der russischen Invasion glich die Stadt dann einer Geisterstadt. Mittlerweile sind viele zurückgekommen, trotz des Kriegs.
Wie stark hat sich die Stadt verändert, seit der Krieg begonnen hat?
Sie hat sich total verändert. Aber sie wirkt immer noch stark und schön.
Welchen Ort hast du zuerst aufgesucht, als du in Charkiw angekommen bist?
Meine Wohnung. Sie liegt in einer sehr schönen Gegend, direkt am Lisopark. Die Wohnung ist im obersten Stockwerk des Gebäudes. Es ist sehr ruhig dort oben, die meisten Fenster meiner Wohnung gehen direkt zum Park raus. Im Frühling und Sommer mischt sich das Vogelgezwitscher mit dem Rauschen der Blätter. Das Haus wurde in den Sechziger Jahren für die Angestellten des Nationalen Wissenschaftszentrums, das in der Nähe liegt, gebaut. Die meisten meiner Nachbarn leben hier seit dieser Zeit, viele von ihnen sind intelligente Leute. Man kennt sich untereinander, unterhält sich und hilft sich gegenseitig. Es ist eine angenehme Nachbarschaft.
Wie fühlte es sich an, nach Charkiw zurückzukehren?
Es war ein seltsames Gefühl. Auf der einen Seite fühlt man sich zuhause, das gibt einem eine Menge Energie. Auf der anderen Seite hat sich alles verändert und sieht fremd aus. Es ist ein bisschen so, wie wenn du nach einem Arbeitstag nach Hause zurückzukommst und jemand hat deine Möbel und deine Bücher ausgetauscht. Du bist nicht sicher, ob es wirklich deine Wohnung ist.
Wie stark spürt man den Krieg in der Stadt? Inwiefern ist das öffentliche Leben eingeschränkt?
Du bemerkst den Krieg an kleinen Details wie Einschusslöchern. Und natürlich hört man häufig Sirenen. Es sind viele neue Bunker in der Stadt entstanden. Schulunterricht findet in U-Bahnstationen statt. Am Abend wird es ziemlich düster, weil es keine Straßenbeleuchtung gibt. Die meisten Restaurants und Kulturinstitutionen haben geschlossen.
Wie hast du die Tage in Charkiw verbracht?
Ich habe versucht, einen normalen Tagesablauf zu haben. Die meiste Zeit habe ich natürlich mit meiner Familie verbracht. Wenn wir nicht zusammen waren, bin ich durch die Stadt gelaufen und habe geschaut, was sich verändert hat, habe versucht, mit Charkiw neu in Kontakt zu treten. Ich arbeite gerade an mehreren künstlerischen Ideen und habe während meines Aufenthalts in der Ukraine viele Notizen gemacht.
Gab es einen Moment, in dem du den Krieg vergessen hast?
Ja, als ich beim Zahnarzt war.
Leben noch viele Freunde von dir in der Stadt?
Nicht wirklich. Die meisten haben die Stadt verlassen. Sie leben mittlerweile in Italien, Frankreich, Polen, Spanien oder wie ich in Deutschland. Fünf Freunde von mir sind während des Kriegs gestorben, auch vier Studenten, die ich unterrichtet habe. Bei vier weiteren Leuten aus meinem Umfeld weiß ich nicht, ob sie noch am Leben sind. Es sind auch viele Kinder im Krieg gestorben. Im Taras Shevchenko Park im Zentrum von Charkiw gibt es ein Denkmal für sie, an dem die Menschen Blumen und Stofftiere niederlegen.
Du warst knapp zwei Wochen in Charkiw und hast, wie schon erwähnt, viel Zeit mit deinen Eltern verbracht. Wie war der Moment, als du dich von ihnen wieder verabschieden musstest?
Meine Mutter sagte: „Was es das wirklich schon, fährst du morgen wieder?“ Ich sagte: „Ja“. Wir umarmten uns. Auch ohne Worte war es ein sehr schwieriger und emotionaler Moment. Jetzt, da ich wieder in Deutschland bin, schreiben wir uns jeden Tag Nachrichten über die Sozialen Netzwerke. Und natürlich telefonieren wir regelmäßig.
Du hast deinen Hund schon erwähnt. Ein Mops namens Gavrila. Was bedeutet er dir?
Gavrila ist für mich eine Art Buddha. Er ist voller Liebe und sehr friedlich. Aggression ist ihm fremd. Ich lerne viel von ihm.
Wie hat Gavrila reagiert, als du nach deiner zweiwöchigen Reise zurückkamst?
Als ich reinkam, hat er mich beschnüffelt und ist dann weggegangen. Er brauchte ein paar Sekunden. Dann rannte er erneut auf mich zu, sprang an mir hoch und leckte mich ab. Ich glaube, er konnte zunächst gar nicht glauben, dass ich wieder bei ihm bin.
Wie stark hast du dich in den vergangenen anderthalb Jahren verändert?
Ich denke, jede:r Ukrainer:in hat sich verändert, da bin ich keine Ausnahme. Ich will niemandem mehr etwas beweisen und habe aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen, was Leute über mich denken. Ich bin zerbrechlicher geworden und versuche nicht mehr, das zu verbergen. Gleichzeitig bin ich auch stark genug, anderen zu helfen. In meiner künstlerischen Praxis konzentriere ich mich auf das Thema der Verbindung und habe begonnen, mit Ideen für Performances und Installationen zu arbeiten.
Derzeit lebst du in Düsseldorf. Wie nimmst du die Stadt wahr?
Düsseldorf hat einen speziellen Charme. Ich bin neugierig auf die Stadt und freue mich, dass es Menschen gibt, die mir unterschiedliche Facetten von Düsseldorf zeigen. Ich gehe gerne im Südpark spazieren. Und natürlich am Rhein.
Wo siehst du langfristig deine Perspektive? Möchtest du in die Ukraine zurückkehren, wenn der Krieg vorbei ist?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Unsere Zukunft scheint im Moment so ungewiss, unsere Welt versinkt in Aggression verschiedener Kriege und Katastrophen. Diese Ungewissheit macht mir zu schaffen. Deshalb versuche ich, mich mehr auf die Gegenwart zu konzentrieren. Ich mache Pläne für die nächste Woche oder den nächsten Monat, das erscheint mir realistisch. Ich habe in Deutschland viele wunderbare Menschen kennengelernt und bin froh, dass ich im Moment hier bin und die Möglichkeit habe, weiter an meinen Projekten zu arbeiten und anderen durch meine Organisation und meine Lehrtätigkeit zu helfen.
Hanna Melnykova wurde 1983 in Charkiw im Nordosten der Ukraine geboren. Sie studierte Architektur an der Nationalen Akademie für Kommunalwirtschaft in Charkiw und Kunstfotografie an der Königlichen Akademie der Künste in Den Haag. Melnykova ist bildende Künstlerin, Lehrerin sowie Präsidentin und Kuratorin der Organisation ukrainischer Fotografinnen. Sie hat Ausstellungen in den USA, der Schweiz, Deutschland und den Niederlanden kuratiert. Seit April 2022 lebt sie in Deutschland, derzeit bei Freunden in Düsseldorf-Eller.
Hanna sucht eine Wohnung in Düsseldorf. Angebote gerne an salut@theycallitkleinparis.de.