Auf einer gemeinsamen Fahrt nach Dresden sprach der Comiczeichner Tobi Dahmen vor rund 20 Jahren mit seinem Vater ausführlich über dessen Leben. Er zeichnete das Gespräch auf, wenn auch noch ohne konkreten Plan. Nachdem der Vater im Jahr 2015 verstorben war, stieß der Sohn dann beim Ordnen der Hinterlassenschaften auf eine Reihe von Briefen, die aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammten. Von manchem, was er in der Folge las, war Dahmen überrascht, anderes empörte ihn. Er stieg tiefer in die Recherche ein, forschte in Archiven, las unzählige Bücher und suchte Schauplätze auf. In vielen Jahren Arbeit entstand so sein Buch „Columbusstraße“, benannt nach der gleichnamigen Straße in Düsseldorf-Oberkassel, in der das Elternhaus von Dahmens Vater steht. In seiner Graphic Novel rekonstruiert Dahmen anhand der bewegenden Zeitzeugnisse eine Chronik der deutschen Kriegsjahre im Spiegel seiner eigenen Familiengeschichte. theycallitkleinparis hat mit Tobi Dahmen gesprochen.
Tobi, dein Vater ist im Jahr 2015 verstorben. Wie war euer Verhältnis?
Mein Vater war ein sehr lieber Mann, aber er war auch recht konservativ. Als Kind hab ich gerne Zeit mit ihm verbracht, als Teenager sind wir oft aneindergerasselt. Mein Vater war Jahrgang 1932, also Kriegsgeneration. Er war zu seiner Zeit schon konservativ erzogen worden, weil er verhältnismäßig alte Eltern hatte. Als ich später selber Vater wurde, hatten wir dann wieder ein sehr gutes Verhältnis.
Wenn ich an meinen Vater denke, der auch nicht mehr lebt, dann stelle ich fest, dass ich sehr wenig über ihn wusste und weiß. Wie war das bei dir? Hat dein Vater viel über sein Leben erzählt?
Als Kind interessiert man sich ja kaum für die eigenen Eltern. Man ist vor allem mit sich selbst beschäftigt, als Teenager erst recht. Ich habe erst angefangen, über das Leben meiner Eltern nachzudenken, als ich selbst Familie hatte. Da begreift man dann, warum sie dies oder jenes gemacht haben. Und wenn meine Mutter wieder darüber gestöhnt hat, wie viel ich als Baby geschrien habe, hat man auf einmal verstanden, wie sehr das an den Nerven zerren kann.
Mein Vater hat immer gerne von früher erzählt. Aber als Kind hörte ich immer nur mit halbem Ohr zu. Irgendwann, als ich in Düsseldorf wohnte, erinnerte ich viele der Geschichten, die er mir erzählt hatte. In den frühen Zweitausendern wollte er dann ein wenig Zeit mit mir verbringen und lud mich zu einer Reise nach Dresden ein. Er wollte sich vor Ort eine Ausstellung mit Zeichnungen anschauen und dachte, das wäre auch was für mich. Diese Reise hab ich dann genutzt, um mir seine Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Mir war schon bewusst, dass er besondere Dinge erlebt hatte und ich wollte das festhalten. Ich hab unser Gespräch mit dem iPod aufgenommen, mit einem aufgesteckten Mikrofon. Die Qualität ist grottig schlecht, aber es ist schön, diese Aufnahmen zu haben, die spielt mein iTunes manchmal zufällig ab und dann spricht mein Vater wieder mit mir. Heute geht das so viel leichter. Ich möchte jeden und jede ermutigen, solche Gespräche mit den Eltern zu führen und aufzubewahren. Man weiss ja nie, wie lange man sich noch hat.
Nach dem Tod deines Vaters bist du auf eine Sammlung alter Familienbriefe gestoßen. Die Briefe haben dich zu deinem neuen Buch „Columbusstraße“ inspiriert. Wie schnell war dir klar, dass daraus eine künstlerische Arbeit entstehen würde?
Ich habe das Gespräch schon seinerzeit aufgenommen, um mal irgendwas damit zu machen. Ein paar Jahre später habe ich ein solches Gespräch auch mit meiner Mutter geführt. Nach dem Tod meines Vaters sind wir seine Sachen durchgegangen und dabei tauchten die Briefe auf, die er schon in unserem Gespräch erwähnt hatte. Wir hatten uns immer vorgenommen, sie gemeinsam zu sichten, haben es aber nicht getan. Das verfluchte „Müssen wir mal irgendwann machen“. Die Briefe haben das, was mir mein Vater beschrieben hatte, fühlbar gemacht. Sie waren ein echter Blick zurück in die furchtbare Zeit des NS-Regimes. Als ich die Briefe gesichtet und die anderen Dokumente zusammengetragen hatte, war klar, dass ich damit was machen muss.
Wie bist du im weiteren Verlauf vorgegangen? Mit wem hast du gesprochen? Wie hast du Zeitgeschichtliches recherchiert?
Zunächst habe ich die Briefe, die vor allem von meinen Onkels stammten und an der Ostfront geschrieben waren, transkribiert. Später dann das Tagebuch meiner Großmutter. Letzteres ist die wichtigste Quelle für das zweite Buch, das sich mit der Nachkriegszeit beschäftigen wird. Dann habe ich versucht, all die Ereignisse, die mir bekannt sind, in einen Zeitstrahl einzuordnen und mit den historischen Ereignissen abzugleichen. Dabei fiel mir auf, dass das, was sich in meiner Familie abgespielt hat, auch in Teilen den Verlauf des Zweiten Weltkriegs abbildet. Um das alles aber auch entsprechend interpretieren zu können, habe ich einen riesigen Stapel Bücher zum Thema gelesen. Außerdem habe ich versucht, mir an den Schauplätzen ein Bild zu machen. Dabei haben mir viele Leute vor Ort geholfen und mich auch an Orte geführt, an die man normalerweise nicht kommt. Ein großes Geschenk war dabei, dass das Geburtshaus meines Vaters in Düsseldorf-Oberkassel noch steht. Da hat sich im Innenleben des Hauses nicht viel verändert. Das war natürlich wahnsinnig hilfreich, um den Familienalltag zu rekonstruieren. Ich kenne das Haus zwar noch aus frühester Kindheit, aber mich dort nochmal aufzuhalten war wirklich beeindruckend. Und dass sich die Tochter der Villinger Familie Huth, die eine besondere Rolle im Buch spielt, so intensiv mit mir über diese grauenvolle Zeit ausgetauscht hat, bedeutet mir wahnsinnig viel.
Wie haben lebende Verwandte auf dein Vorhaben, ein Buch zu schreiben, reagiert? Gab es da auch Vorbehalte?
Ich wurde eigentlich von allen ermutigt. Aber aus der Familie meines Vaters lebt außer einem Großcousin auch mittlerweile niemand mehr, der diese Zeit noch miterlebt hat. Eine besonders große Hilfe war mir meine Cousine Brigitte Adorno, die sich ebenfalls sehr ins Thema reingewühlt hat und mir geholfen hat, das Material zu ordnen.
Warum der Titel „Columbusstraße“?
Die Columbusstraße ist die Straße, auf der das Geburtshaus meines Vaters steht. Darüber hinaus wird sie aber auch für die Familie meiner Mutter, die in Ostdeutschland groß geworden ist, zum Zuhause werden. Ich will da nicht zu viel verraten, weil sich das dann im zweiten Buch abspielen wird. Aber dadurch, dass sich die beiden dort kennengelernt haben, ist die Columbusstraße gewissermassen auch das Fundament für meine Existenz.
Was hast du im Laufe der Recherchen über deinen Vater erfahren, was dich überrascht hat?
Was ich da gelesen habe, war schon manchmal konfrontierend. Mein Großvater wurde in der Familie immer als jemand hochgehalten, der als Rechtsanwalt Regimegegner vertrat und sich dem Regime entgegengestellt hat, obwohl er später, um seinen Beruf weiter ausüben zu können, Parteianwärter werden musste. Gleichzeitig wurde aber sein in Briefen offen geäußerter Antisemitismus unter den Teppich gekehrt. Die Figur meine Großvaters beschreibt eben auch, dass diese Zeit nicht so schwarz-weiss war, wie wir Nachgeborenen sie uns manchmal vorstellen. Sie besteht aus vielen, meist sehr dunklen Grautönen. Es gab natürlich auch noch einige andere Rechercheergebnisse, die mich ziemlich umgehauen haben, aber auch da möchte ich noch nicht zu sehr vorgreifen.
Wie lange hast du an dem Buch gearbeitet?
Viele Jahre. Während der ersten Jahre habe ich sporadisch die Briefe transkribiert, das Material geordnet und viel gelesen. Im Oktober 2018 habe ich mich erstmals zeichnerisch mit den Inhalten beschäftigt. Im Juli 2019 habe ich angefangen, die Geschichte zu schreiben, kurz danach habe ich mit dem Storyboard angefangen. Im Januar 2020 hab ich begonnen, die Seiten zu zeichnen. Ich versuche, immer drei Seiten pro Woche zu schaffen, während der Lockdowns waren es auch mal fünf pro Woche. Der Prozess des Zeichnens hat also ziemlich genau vier Jahre gedauert.
Wie schwierig ist es, sich so einem Projekt nicht voll und ganz widmen zu können, weil man parallel noch Kundenaufträge erledigen muss, um Geld zu verdienen?
Natürlich wäre es besser, kontinuierlich am Stück daran arbeiten zu können, aber leider bezahlt einem das niemand. Okay, ich hätte mich auch um Förderung kümmern können, aber der Papierkram hat mich ein wenig abgeschreckt. In der Zeit, die ich dafür hätte aufwenden müssen, habe ich lieber eine neue Seite gezeichnet. Was aber natürlich schon ein bisschen dumm ist. Vielleicht probiere ich das für das zweite Buch dann mal. Vor allem ist es ärgerlich, wenn man sich nach längerer Pause erstmal wieder in die eigene Recherche einlesen muss, weil man inzwischen so viel vergessen hat. Andererseits hilft die Disziplin, pro Woche drei Seiten zu schaffen, ganz gut, nicht den Faden zu verlieren. Ich zeichne ja auch auf dem iPad, daher konnte ich das auch noch machen, während die Familie vor dem Fernseher sitzt.
Das Buch erscheint am 29. Mai pünktlich zum Comic Salon Erlangen im Carlsen Verlag. Was für Veranstaltungen sind zum Erscheinen geplant?
Was genau alles in Erlangen geplant ist, weiß ich noch gar nicht. Ich freu’ mich aber wahnsinnig, dass das Buch schon vor Erscheinen für den Max-und-Moritz-Preis des Comic Salons nominiert wurde. Das sind schon ganz schöne Vorschusslorbeeren. Wir planen für den Salon eine Ausstellung, die hoffentlich auch noch an andere Stationen reisen wird. Daneben gibt es einige Lesungen und Buchpräsentationen. Bisher sind Stuttgart, Köln, Düsseldorf und Berlin geplant.
Während du an dem Buch gearbeitet hast, sind sowohl in den Niederlanden, wo du seit vielen Jahren lebst, als auch in Deutschland die rechtsextremen Kräfte mehr und mehr erstarkt. Wie groß ist deine Sorge darüber?
Natürlich ziemlich groß. Man neigt ja heute dazu, die Situation mit 1933 zu vergleichen. Was sicherlich vergleichbar ist: wie sehr die Gesellschaft sich auch heute wieder in zwei Lager teilt, unter denen wenig Konsens herrscht. Unser Vorteil gegenüber damals ist natürlich, dass wir bereits wissen, wo das alles geendet ist. Ich hoffe, dass wir schlau genug sind, nicht nochmal die gleichen Fehler zu begehen. Auf der anderen Seite haben wir ganz neue Herausforderungen durch die Beeinflussung der Menschen über soziale Medien und Fake News. Ich glaube, da steht uns noch einiges bevor. Der beste Weg solchen Fehlinformationen vorzubeugen, ist meines Erachtens Bildung. Ich hoffe, einen kleinen Teil dazu beitragen zu können. Es sind ja immer wieder die gleichen Themen, mit denen die Rechtsextremen punkten, immer wieder Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufhetzen. Nach unten treten. Und natürlich Land gegen Stadt. Beides funktioniert auch in den Niederlanden extrem gut. Neben dem Tod meines Vaters war jedenfalls auch die gesellschaftliche Situation in 2015 eine große Motivation, mich an dieses Buch zu setzen. Wie mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ damals umgegangen wurde, hat mich sehr erschreckt. Den Leuten ist gar nicht mehr bewusst, wie gut es uns geht. Dem wollte ich das Leben in Deutschland von vor nur einem Menschenleben gegenüber stellen. Wie viele Flüchtlinge es damals gab, Not und Hunger! Und wohin führten all die Heilsversprechen von Nationalismus und Ausgrenzung letztendlich?
Engagierst du dich, abgesehen von deiner künstlerischen Arbeit, politisch?
Ich bin in keiner Partei oder Initiative, ich unterstütze Hilfsorganisationen, wenn ich was erübrigen kann. Meine Frau hat in Flüchtlingslagern auf Lesbos geholfen, das war schon eine andere Nummer als das, was ich leiste. Ich gehe natürlich auch ab und zu auf eine Demo. Aber ich versuche mich vor allem mit meiner Arbeit gesellschaftlich zu engagieren, einen Teil für die Erinnerungskultur zu leisten. Neben dem Buch habe ich gerade die Geschichte des Holocaust-Überlebenden Simon Gronowski gezeichnet, für ein internationales Projekt der drei Gedenkstätten Kamp Westerbork, Neuengamme und Kaserne Dossin. Außerdem arbeite ich bei einem internationalen Projekt mit, das von Charlotte Schallie von der Universität von Victoria in Kanada initiiert wurde, in dem Überlebende von Genoziden Illustrator:innen ihre Geschichte erzählen, die diese dann zu Papier bringen. Ich arbeite da mit Akram zusammen, der die Hölle der syrischen Gefängnisse überlebt hat. Wenn man weiß, was sich dort abspielt, versteht man jeden, der dort weg will. Das wird mich in nächster Zeit beschäftigen. Außerdem arbeiten wir mit mehreren Zeichner:innen an einer Anthologie über die Not der Nachkriegszeit im Auftrag des Haus der Geschichte NRW. Davon abgesehen zeichne ich auch sehr gerne für den WWF, einen meiner langjährigen Kunden, und für ein niederländisches Format, das sich für soziale Werte, Teamgeist und gegen Mobbing an Schulen einsetzt.
Ein Format wie deine Graphic Novel erscheint mir geeignet, um das Thema – jenseits des klassischen Geschichts- und Politikunterrichts – bei Jugendlichen zu platzieren. Gibt es diesbezüglich Pläne?
Das würde mich natürlich besonders freuen, wenn das Buch auch an Schulen eingesetzt wird. Ich glaube, auch Schüler:innen können dadurch schon einen ganz guten Eindruck von den deutschen Kriegsjahren bekommen und das recht niedrigschwellig, ohne sich durch dicke Geschichtsbücher zu arbeiten. Weil aber manches doch ein wenig Hintergrundwissen erfordert, habe ich zusammen mit dem Geschichtslehrer Christoph Weber ein Glossar für mein Buch erstellt, das zahlreiche historische und familiäre Hintergründe erklärt. Wie gesagt, ich hoffe, ein paar Schulen nehmen das Angebot an.
Zum Schluss würde ich gerne noch mal auf deinen Vater zurückkommen. Welche Frage hättest du ihm gerne noch zu Lebzeiten gestellt?
Die wirklich wichtigen Fragen hätte ich ihm wohl erst stellen können, wenn wir uns das Material mal zusammen angeschaut hätten. Heute würde mich vor allem interessieren, was er von dem Buch hält. Wobei ich mir auch ziemlich sicher bin, dass er nicht so ganz einverstanden wäre mit allem. Er war seinen Eltern gegenüber sehr loyal, typisch für eine christlich-katholische Familie. Für mich ist es ein großer Segen, dass meine Mutter noch lebt und ich mit ihr über meine Arbeit sprechen kann, sie mir sagen kann, das war so oder so war es nicht. Es ist manchmal sehr konfrontierend für sie, aber dass sie mich die ganze Zeit unterstützt hat und mir immer Rede und Antwort steht, bedeutet mir sehr viel. Ich glaube, ihr ist aber immer noch nicht bewusst, was das für ein dickes Buch wird. Ich bin gespannt, wie sie guckt, wenn sie es zum ersten Mal in Händen hält.
„Columbusstraße“ ist im Carlsen Verlag erschienen und kostet 40 Euro.
7.6., 19 Uhr, Tobi Dahmen im Gespräch mit Christine Gundermann (Uni Köln), Christuskirche, Kruppstraße 11, Düsseldorf