Indira im Interview – „Ich mag es nicht, wenn Leute mir sagen, dass ich etwas nicht schaffen kann“

Indira ist eine bemerkenswerte 13-Jährige. Im zarten Alter von neun Jahren wollte sie Bundeskanzlerin werden, nicht irgendeine, sondern die jüngste Deutschlands. Ganz ad acta gelegt hat sie diesen Plan bis heute nicht. Die Tochter einer Kolumbianerin und eines Belgiers denkt über Identitätsfragen nach, möchte sich gegen Rechts engagieren und ist ohne ihre Eltern für ein halbes Jahr nach Kolumbien gegangen. theycallitkleinparis hat Indira zum Interview getroffen.

Indira, wann entstand die Idee, für ein halbes Jahr nach Kolumbien zu gehen?
Das habe ich mir schon sehr früh überlegt, als ich 8 oder 9 Jahre alt war. Anfang 2023, als die Pandemie vorbei war, haben sich die Pläne dann konkretisiert. Da habe ich mit meinen Lehrer:innen gesprochen und überlegt, wie das funktionieren könnte. Danach habe ich es meiner Mutter gesagt. Sie war etwas überrascht, fand es aber gut.

Und wie haben die Lehrer:innen reagiert?
Ziemlich cool. Die haben das sofort unterstützt und mir viel geholfen. Sie haben mir verschiedene Optionen aufgezeigt. Wenn ich die Arbeiten nicht mitgeschrieben hätte, hätte ich zum Beispiel die 8. Klasse wiederholen müssen. Ich habe sie dann mitgeschrieben, allerdings nur in den Hauptfächern, also Mathe, Deutsch, Englisch und Latein. Den Stoff habe ich mir in Kolumbien anhand von Büchern selbst erarbeitet. Das hat eigentlich gut funktioniert.

Mit wie viel Vorlauf hast du deinen Aufenthalt in Kolumbien vorbereitet?
Ungefähr ein halbes Jahr. Von August 2023 bis Februar 2024 war ich dann dort. Als ich geflogen bin, war ich 12. Ich bin dann in Medellín 13 geworden.

Gab es kurz vor deiner Abreise Momente, in denen du Zweifel hattest? Oder Ängste?
Zunächst mal war die Vorfreude so groß, dass ich schon drei Monate vorher mit dem Packen anfangen wollte. Kurz vor dem Abflug war ich dann aber doch sehr nervös und dachte: Was, wenn ich es nicht hinkriege? Wenn es mir alles zu viel wird?

Wie war der Abschied am Flughafen?
Sehr krass. Meine Mutter und meine jüngere Schwester waren da. Und meine Tante. Wir haben alle geweint. Zum Glück bin ich nicht alleine geflogen, das geht in meinem Alter bei Flügen außerhalb von Europa auch gar nicht. Deshalb war meine Oma dabei. Sie war vorher drei Monate bei uns in Deutschland gewesen.

Wie lange ist man nach Medellín unterwegs?
Insgesamt ungefähr 24 Stunden. Wir sind erst nach Madrid geflogen und von dort aus weiter nach Medellín.

Du bist zweisprachig aufgewachsen. Ist dein Spanisch genauso gut wie dein Deutsch?
Mit meiner Mutter haben wir immer Spanisch gesprochen. Insofern konnte ich auch vor meinem halbjährigen Aufenthalt in Kolumbien schon sehr gut Spanisch. Aber insgesamt ist mein Deutsch schon besser. Ich lese zum Beispiel lieber auf deutsch. Wenn ich Geschichten schreibe, mache ich das auch eher auf deutsch, das wäre auf spanisch für mich schon anstrengender. Wenn ich spreche, bevorzuge ich Spanisch. Ich mag die Sprache, sie ist angenehmer zu sprechen, sie klingt herzlicher und sanfter. Fast wie ein Sprechgesang.

Sprache ist ja etwas, was sich ständig verändert. Bist du da im Spanischen anfangs beschränkt gewesen, fehlten dir zum Beispiel Begriffe aus der Jugendsprache?
Am Anfang habe ich natürlich viele Sachen nicht verstanden. Aber meine Freund:innen haben mir das dann erklärt. Das habe ich also schnell gelernt.

Deine Mutter ist Kolumbianerin, dein Vater gebürtiger Belgier. Du bist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Was empfindest du an dir als sehr kolumbianisch – und was eher deutsch?
Sehr kolumbianisch ist, dass ich Menschen auf der Straße anlächle. Hier in Deutschland lächeln aber nur wenige zurück. Außerdem bin ich sehr spontan. Es könnte sein, dass ich in fünf Minuten meine Cousine in Bayern anrufe und frage, ob ich nächstes Wochenende vorbeikommen kann. Und deutsch ist, dass ich sehr zielorientiert bin.

Du hast blonde Haare und blaue Augen. Damit siehst du nicht aus wie man sich die klassische Kolumbianerin vorstellt.
Das habe ich vor Ort natürlich häufiger gehört. Wenn ich im Supermarkt gefragt wurde „Du siehst gar nicht kolumbianisch aus, wo kommst du denn her?“ hat mir das nicht gefallen. Ich habe dann immer geantwortet: „aus Medellín“. Natürlich sehen die meisten Kolumbianerinnen anders aus als ich. Es gibt aber auch welche, die blond sind und blaue Augen haben. Als ich ein Kind war, gab es Einheimische, die meine Haare anfassen wollten. Mir war das unangenehm. Genauso wie wenn Fremde mich ansprechen und sagen „du hast so schöne Augen“. Das ist ja auch doof für meine Freundinnen, die in dem Moment dabei sind.

Wie ist Medellín als Stadt, auch verglichen mit Düsseldorf?
Medellín hat ungefähr zweieinhalb Millionen Einwohner:innen. Allein das Viertel, in dem meine Großeltern leben, ist von der Fläche her so groß wie Düsseldorf. Es gibt auch touristische Viertel. Comuna 13 zum Beispiel. Und viele Malls. So wie die Arkaden, nur 20 Mal größer. Das Angebot ist allerdings komplett anders als hier in Europa. Obwohl, H&M gibt es auch.

Während deiner Zeit in Medellín hast du bei deinen Großeltern gewohnt. Wie leben sie?
Das Haus meiner Großeltern liegt am Rande der Stadt, in Alleinlage, umgeben von 3000 Quadratmetern Garten. Es gibt einen Pferdestall, aber mittlerweile keine Pferde mehr. Durch den Garten fließt ein Bach. Im hinteren Teil des Gartens liegt ein Bambus-Wald. Das Ganze ist sehr abgelegen. Die nächsten Nachbarn sind ungefähr zehn Minuten zu Fuß entfernt. In die Innenstadt durfte ich nicht alleine, sondern nur mit meiner Oma. Mit Freundinnen habe ich mich in Malls getroffen, da hat mich meine Oma dann auch hingefahren.

Du warst ja auch vorher schon öfter in Kolumbien.
Ja. Um dem Winter hier in Deutschland zu entfliehen, waren wir häufig ein bis zwei Monate dort, immer über Weihnachten. Meine Schwester Lucia und ich sind während dieser Aufenthalte in Medellín zur Schule gegangen.

War das die gleiche Schule wie die, die du während der sechs Monate besucht hast?
Genau. Das ist eine Privatschule. Sie ist verglichen mit dem Gymnasium, das ich hier in Düsseldorf besuche, sehr klein. Die Sekundarstufe 2 hat maximal 150 Schüler. An der Schule habe ich auch meine beste Freundin kennengelernt. Sie ist genauso wie ich. Nur ein bisschen boshafter.

Inwiefern unterschieden sich Schule und Unterricht von dem, was du von hier kanntest?
An der Schule, die ich besuchte, wird nicht im Klassenverbund unterrichtet. Jede:r stellt sich den Stundenplan individuell zusammen. Der Unterricht findet altersgemischt statt, ab der 1. Klasse. Die Schule in Kolumbien ist viel schwerer als hier in Deutschland. Man erarbeitet sich die Themen selbständig. Es gibt auch viel mehr Tests als in Deutschland. An den Tischen sind Trennwände angebracht, sodass man nicht mit Mitschüler:innen sprechen kann. Während des Unterrichts ist es gruselig leise. Selbst wenn der Lehrer kurz weggeht, arbeiten alle konzentriert weiter. Der Unterricht geht morgens früher los als hier, schon um 7:40 Uhr, früher startete er sogar schon um 7 Uhr. Die Stunden dauern 90 Minuten, also doppelt so lang wie in Deutschland. Das ist sehr anstrengend. Zur Schule hat mich meine Oma immer mit dem Auto gebracht. Sie musste ihren Rhythmus für die Zeit, ich bei ihnen lebte, ziemlich umstellen. Vorher war sie immer erst gegen 11 Uhr aufgestanden. Die Fahrt zur Schule dauert ungefähr 20 Minuten – wenn kein Stau ist. Aber meistens ist Stau. Krasser Stau. Wenn die Leute sich hier über den Stau beschweren, müssten sie mal einen Tag den in Medellín erleben. Meine Oma und ich haben dann immer die Fahrräder gezählt, um uns die Zeit vertreiben. An manchen Tagen kamen wir auf 45 Räder.

Wie hast du deine Freizeit verbracht?
Ich habe Chalanería gemacht, das ist eine Mischung aus Dressur und Westernreiten, zweimal in der Woche. Am Wochenende bin ich bei Turnieren angetreten. Ansonsten habe ich eigentlich das Gleiche, was ich hier auch mache. Mich mit Freundinnen getroffen. In die Stadt gegangen. Ins Kino. Das Gute ist: In Kolumbien ist der Frozen Joghurt viel günstiger als hier. Was ich hingegen sehr vermisst habe, sind die ungarischen Paprika-Chips. Die bekommt man in Kolumbien nämlich leider nicht.

Wir haben noch gar nicht über das kolumbianische Essen gesprochen. Was macht die Landesküche aus?
Ich liebe kolumbianisches Essen! Ich könnte mich den Rest meines Lebens davon ernähren. In vielen Gerichten ist Hogao drin, das ist eine Mischung aus Zwiebeln und Tomaten. Avocado spielt eine wichtige Rolle und Zitrone. Der Ersatz zum Brot sind Maiskuchen, die sogenannten Arepas. Man isst sie mit Käse oder Marmelade. Und dann gibt es noch Cazuelita, einen Eintopf mit Bohnen, Hackfleisch, Mais, Chorizo, Chicharrón und Kochbananen. Bei meinen Großeltern zuhause kocht übrigens mein Opa. Er liebt es zu kochen und kocht megagut.

Wie hast du dich mit deinen Großeltern verstanden?
Generell steht die Familie in Kolumbien immer an erster Stelle. Ich hatte meine Oma bis dahin immer als Oma erlebt. Als Oma ist sehr, sehr lustig, sie macht bei jedem Quatsch mit. Als Mutter war sie natürlich anders. Da hatte sie eine andere Rolle, musste auch manchmal streng sein oder vielleicht Dinge verbieten.

Was und wen hast du vermisst?
Ich habe meine Familie vermisst, meine Mutter und meine Schwester Lucia. Wir haben viel geschrieben, viel telefoniert. Ich habe ihnen auch immer Fotos geschickt, von dem, was ich so erlebe. Meine Mutter kennt alles an Gossip – sowohl aus meiner kolumbianischen als auch aus meiner deutschen Schule. Social Media habe ich nicht, weder Insta noch TikTok oder Snap. Nicht mal WhatsApp. Meine Mutter möchte das nicht, wegen Datenschutz. Ich habe aber auch nicht wirklich Lust darauf.

Wie war es dann, als es wieder nach Deutschland ging?
Das war sehr schlimm. Am letzten Schultag haben mir viele Freundinnen Briefe geschrieben oder ein Geschenk mitgebracht. Dass sie mich sehr vermissen werden, stand in den Briefen, dass es schön war, dass ich da war. Und dass sie gerne mit mir in Kontakt bleiben würden.

Was war das Wichtigste, was du während deines Aufenthalts gelernt hast?
Entspannter mit Problemen umzugehen. Dinge laufen lässt, die man nicht ändern kann. Sich auf das Gute konzentrieren und nicht auf die Schwierigkeiten fokussieren.

Du hast ja nach deiner Rückkehr bestimmt viel über das halbe Jahr in Medellín erzählt. Welches Bild haben die Menschen hier in Deutschland von Kolumbien?
Man weiß hier relativ wenig über Kolumbien, und es gibt viele Vorurteile. Wenn ich in Deutschland sage, dass ich Kolumbianerin bin, kommen immer die Pablo-Escobar-Witze.

Du bist jetzt 13 und gehst in die achte Klasse eines Gymnasiums. Hast du schon konkrete berufliche Pläne?
Ja, habe ich. Nach dem Abi möchte ich gerne sechs Monate reisen. Danach fange ich dann an zu studieren. Jura. Entweder in Köln, Münster, Heidelberg oder Hamburg. Ich möchte später entweder Anwältin sein oder etwas Politisches im Bildungsbereich machen. Weil es ein Thema ist, was mich stark betrifft. Außerdem möchte ich mich gerne gegen Rechts engagieren. Die AfD ist ja ziemlich stark. Das ist halt nicht so cool.

Du hast ja eine jüngere Schwester, Lucia. Möchte sie dir nacheifern und ebenfalls länger in die Heimat eurer Mutter gehen?
Ja, das ist alles schon geplant. Lucia möchte gehen, wenn sie 12 ist. Bis dahin kann sich meine Oma aber erst mal erholen.

Wofür bist du deiner Mutter dankbar?
Dafür, dass sie mich einfach machen lässt. Sie unterstützt mich immer, in allem. Sie sagt mir ehrlich ihre Meinung. Aber sie hat nie gesagt: „Das schaffst du nicht“. Die Erwachsenen sind häufig sehr festgefahren. Als Kind lernt man ständig neue Sachen. Unsere Generation sollte einen Schritt weiter sein und Menschen nicht wegen ihrer Herkunft, ihrer Kleidung oder ihres Körpers diskriminieren. Wir sind alle Menschen. Es macht keinen Unterschied. Ich mag es generell nicht, wenn Leute mir sagen, dass ich etwas nicht schaffen kann. Ich habe große Pläne. Und werde alles tun, um sie umzusetzen.

1 Kommentar

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Ich bin begeistert und holla, meine Hochachtung vor Indira.
Sie macht das total richtig, ohne Vorurteile einfach eintauchen und am Ende hat sie viele richtig tolle Menschen kennengelernt. Die auch sie schätzen gelernt haben.
Was für eine Geschichte, und ich bin mir sicher, daß wir von Indira ( hoffentlich ) auf jeden Fall noch was hören werden.
Wenn man liest, daß sie mal eben den Stoff hier und dort parallel gelernt hat, wow!
Ganz vielen lieben Dank für dieses Interview,
ich drücke Indira alle verfügbaren Daumen, daß sie alles schafft was sie sich vornimmt.

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