Joanna Schulte im Interview – „Die Post hat sich noch nie beschwert“

Kein Oliver, nirgends. Jedenfalls nicht der, der gemeint ist. Denn den gibt es gar nicht. Seit nunmehr zwölf Jahren schickt die Künstlerin Joanna Schulte Briefe an einen fiktiven Empfänger und versteht das Ganze als eine Art Tagebuch in Briefform. Eine poetische Arbeit zweifelsohne. Aber auch eine politische. theycallitkleinparis hat mit der Absenderin darüber gesprochen.

Seit 2012 verschickst du regelmäßig Briefe an Oliver. Was hat es damit auf sich?
Für die Arbeit „An Oliver“ wurden über 1000 Ersttagsbriefe aus der DDR mit gültigen Briefmarken versehen und an eine fiktive Person, Oliver, gesendet und kommen aufgrund von unzureichender Adressangabe an die Absenderin, mich selbst c/o unterschiedlichste Stipendienorte oder Kunstinstitutionen zurück. „An Oliver“ ist eine sich seit 2012 weiterführende konzeptuelle und zugleich ästhetisch visuelle, analoge Arbeit, eine Art Tagebuch in verschriftlichter persönlicher Briefform.

Wie entstand die Idee?
Sie fand ihren Anfang während eines Stipendiums im Künstlergut Prösitz mit dem Ersttagsbrieffund und dann im anschließenden Stipendienaufenthalt im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf in Anlehnung an die Korrespondenz der von Arnims. Die Aufenthaltsstipendien ermöglichen es mir in besonderem Maße mich mit dem jeweiligen Ort und seiner Geschichte auseinanderzusetzen. Mein Interesse galt dem Leerstand und dem Umgang mit Erbe und Relikten, beides Themen, die mein künstlerisches Arbeiten prägen. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt der Begegnung mit Ersttagsbriefen noch nichts von deren Existenz gewusst und stieg dann sukzessive in die Welt der Philatelie ein.

Kannst du den Nicht-Philatelisten unter den Leser:innen mal erklären, was genau Ersttagsbriefe sind?
Bei neuen Briefmarkenausgaben werden besondere Schmuckbriefe gestaltet und am ersten Tag des Erscheinens abgestempelt. Ersttagsbriefe finden bei Philatelisten weltweit großes Interesse. Die Motivwahl der Neuerscheinungen von Briefmarken vermittelt die Geschichte der gesellschaftlich relevanten Themen, das betrifft nicht nur die First Day Cover´s der DDR sondern auch von Europa und Übersee weit.

Zum Frankieren kannst du diese Briefmarken über 30 Jahre nach dem Ende der DDR natürlich nicht mehr verwenden. Deshalb beklebst du sie zusätzlich mit aktuellen Postwertzeichen. Die Motive suchst du sorgfältig aus und gibst dem Ganzen auf diese Art über die persönliche Dimension hinaus auch eine politische.
Bis auf wenige Ausnahmen suche ich die Briefmarken gezielt aus. Ich recherchiere und versuche äquivalente und korrespondierende Motive zu finden. Bei Blumen, bedeutenden Persönlichkeiten oder Naturschutzthemen ist die Auswahl nicht so schwer. Da die Briefe weltweit auf Reisen sind, habe ich einige wenige vertrauenswürdige Supporter:innen, die nach ihren Möglichkeiten besondere und passende Marken auswählen. Manchmal werden die Briefe dabei auch überfrankiert. Interessant ist es für mich, wenn die Ersttagsbriefe der DDR mit ausländischen Motiven, wie zum Beispiel Friedenskongresse in Helsinki, indische Miniaturen oder Olympische Spiele in Mexiko Stadt von diesen Orten jeweils zurückgesendet werden können. Die Länder, derer auf den DDR-Ersttagsbriefen gedacht wird, zeigen die damaligen politischen Verbindungen und zugleich die damals aktuellen Umbrüche oder gar den Zerfall einiger Staaten. Die Arbeit ist poetisch und politisch zugleich, sie diskutiert die deutsch-deutsche Vergangenheit wie auch das aktuelle Zeitgeschehen, inszeniert nonverbale Kommunikation mittels nationaler und internationaler Briefmarken und damit ver­knüpft auch die Thematik des Reisens, die scheinbare Aufhebung von Grenzen, die zur Reflexion des Heimatbegriffs führt.

Nun hat Oliver ja als imaginäre Figur logischerweise keinen Wohnsitz. Deine Briefe adressierst du lediglich mit „An Oliver“. Wie lange dauert es in der Regel, bis die Schreiben wieder bei dir als Absenderin landen, weil sie nicht zugestellt werden konnten?
Die Bearbeitungszeit ist unterschiedlich. Das liegt auch daran, dass die Briefe nicht an meine private Adresse kommen, sondern – wie schon erwähnt – an unterschiedliche Stipendienorte und Kunstinstitutionen. Letztere sammeln die Briefe für mich, solange, bis ich sie bei ihnen abhole, die Briefe dort ausstelle oder mir bei speziellem Kaufinteresse bestimmte „An Olivers“ außer der Reihe zugesandt werden.

Hat sich im Laufe der Zeit die Post mal bei dir beschwert, weil du den Mitarbeitenden viel unnütze Arbeit machst? Oder hat man dort Sinn für diese Art von Kunst?
Interessant, dass du die Arbeit als unnütz bezeichnest. Könnte es nicht auch sein, dass ich das schwindende Post- und Briefwesen durch „An Oliver“ unterstütze? Bei mir persönlich hat sich die Post jedenfalls noch nicht beschwert. Solange die Briefe ausreichend frankiert sind, gehe ich davon aus, dass sie in dem händischen Sortierteil landen, wie viele andere Sendungen auch. Meiner Beobachtung nach dauert die Bearbeitung unwesentlich länger aus dem Ausland, innerhalb Deutschlands gibt es jedoch Unterschiede. Der Vorsitzende eines Philatelievereins hat mir mal erklärt, dass ich ein zweites Mal Postgeschichte erbringen würde, von daher sei die Arbeit für Sammler:innen interessant. Ein Postbeamter in Spanien merkte jedoch an, dass ich die Briefe mit dieser Arbeit zerstöre.

Was passiert mit den Briefen, wenn sie wieder bei dir gelandet sind?
Ich habe mehrere Boxen, in denen die Briefe lagern. Viele sind auch schon verkauft und manche in Sammlungen.

Hat im Laufe der Jahre jemals jemand einen der Briefe an Oliver zu lesen bekommen?
Es sind schon welche unvorsichtig aus Unwissenheit geöffnet worden, was aber gegen das Briefgeheimnis verstößt. Der jeweilige Brief funktioniert dann nicht mehr für mich, da der Umschlag zerstört ist.

Werden die Briefe irgendwann weitervererbt werden?
Eine interessante Frage, wie mit Künstler:innen-Nachlässen umzugehen ist. Ich habe verfügt, dass die Briefe nicht geöffnet werden sollen.

Du hast zu dem Projekt mehrere Ausstellungen gemacht, unter dem Titel „Zurück / Retour / Return“ (Revolver Publishing) ist zudem ein Katalog erschienen. Was genau ist im Rahmen der Ausstellungen zu sehen?
Die Briefe entstehen als Edition für meine multimedialen, installativen Ausstellungen. Sie sind teilweise gerahmt, werden in Boxen präsentiert oder sind auf einer Holzleiste angeordnet zu betrachten. Zu sehen sind die Umschläge der Ersttagsbriefe samt nationaler oder internationaler Briefmarken und Postspuren wie Stempel, Retour-Aufkleber oder Fragezeichen.

Inwiefern ist das Nicht-Preisgeben der Briefinhalte auch als Reaktion auf eine sich verändernde Kommunikation zu verstehen, auf die Tatsache, dass viele Menschen auf Social Media Privates und Intimes öffentlich machen?
Paradoxerweise bergen die ungeöffneten, ungelesenen Briefe an eine fiktive Person, versendet in Briefumschlägen eines untergegangenen Staates, eine ähnliche „Resonanzlosigkeit“ wie die sich im unendlichen digitalen Universum verlierenden Nachrichten, Kommentare und Status-Updates von Whatsapp, Snapchat oder Instagram. Während jedoch schon die Adressierung der Briefe „an Oliver“ eine Eindringlichkeit vermittelt, verleitet die Flüchtigkeit und Anonymität der digitalen Kommunikation vielleicht dazu, sich ungezügelt und belanglos zu äußern: Schnell ist etwas getippt, unter einem Pseudonym von sich gegeben. Die Möglichkeiten des Kommentars wachsen und geraten aus den Fugen. Die Handschrift in ihrer Authentizität stellt sich dem digitalen, anonymen Kommentar entgegen. Die Frage nach der Archivierung von Daten, nach dem Verbleib und Status von digital verschickten Nachrichten und online veröffentlichten Postings steht traditioneller Verschriftlichung, dem „echten“ handgeschriebenen Brief auf Papier gegenüber, der als greifbares, materielles Relikt bleibt.

www.joannaschulte.de
Der Katalog „Zurück / Retour / Return“ kann hier bestellt werden.

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