Dr. Tim Lukas kennt sich rund um den Düsseldorfer Hauptbahnhof gut aus. Seit 2018 leitet der Soziologe an der Bergischen Universität Wuppertal das Projekt „Sicherheit im Bahnhofsviertel“, für das er und seine Kollegen neben Leipzig und München auch die Situation in Düsseldorf untersucht haben. Wie nehmen die Menschen, seien es nun Anwohner oder Passanten, die Gegend zwischen Worringer Platz und Oberbilker Markt, zwischen Mintrop- und Bertha-von-Suttner-Platz wahr? Und wie hängen Kriminalitätsfurcht und Modernisierungsprozesse zusammen? theycallitkleinparis hat mit dem Wissenschaftler gesprochen.
Herr Lukas, passieren in unmittelbarer Bahnhofsnähe generell mehr Straftaten als anderswo in Großstädten?
Das Umfeld der Hauptbahnhöfe bildet neben den zentralen Innenstadtbereichen in jeder deutschen Großstadt einen Schwerpunkt der registrierten Kriminalität.
Und wie haben sich die Zahlen in den vergangenen Jahren in Düsseldorf und den beiden anderen untersuchten Städten entwickelt?
Wie in anderen Städten – und im bundesweiten Trend – sinkt die registrierte Kriminalität in allen drei Städten.
Über welche Art von Straftaten sprechen wir in erster Linie?
Im Düsseldorfer Bahnhofsviertel handelt es sich zumeist um sogenannte Kontrolldelikte, die erst durch das Kontrollhandeln der Sicherheits- und Ordnungsbehörden registriert werden. Ein Großteil der Straftaten umfasst Leistungserschleichungen, also Schwarzfahren, und Delikte im Zusammenhang mit der Betäubungsmittelkriminalität, also Drogenhandel und -konsum. Aber auch Diebstahlsdelikte sind zu verzeichnen, die auf die günstigen Tatgelegenheitsstrukturen im Umfeld des Bahnhofs zurückzuführen sind: viele Menschen und hohe Anonymität.
Ausgangspunkt Ihrer Untersuchung war im Jahr 2018 eine schriftliche Bevölkerungsbefragung. Der Fragebogen umfasste insgesamt 38 Fragen. Um welche Themen ging es dabei?
Unsere Fragen betrafen zum Beispiel kriminalitätsbezogene, aber auch soziale und ökonomische Ängste. Außerdem ging es uns um die Wahrnehmung und Bewertung von Aufwertungsprozessen sowie Maßnahmen zur Erhöhung des Sicherheitsgefühls im Bahnhofsviertel.
Wie viele Düsseldorfer wurden befragt?
Im Sommer 2018 erhielten insgesamt 7.480 Personen aus ganz Düsseldorf einen Fragebogen. 1.476 Personen beantworteten ihn, davon waren 140 Bewohner des Bahnhofsviertels. Anhand der Ergebnisse konnten wir Vergleiche anstellen zwischen dem Sicherheitsempfinden der Menschen, die rund um den Bahnhof wohnen, und jenen, die das Viertel eher als Passanten erleben.
Empfinden diese beiden Gruppen das Viertel denn unterschiedlich?
Ja. Bei denen, die im Bahnhofsviertel wohnen, ist die Kriminalitätsfurcht deutlich geringer ausgeprägt als bei denen aus anderen Düsseldorfer Stadtteilen.
Woran liegt das?
Das hat zum einen mit Gewöhnung zu tun, aber auch mit persönlichen Routinen. Wenn man einen Stadtteil gut kennt, meidet man zu bestimmten Tageszeiten zum Beispiel bestimmte Plätze oder Straßenzüge und kommt so eventuell gar nicht erst in brenzlige Situationen.
Trotzdem hat Ihre Untersuchung ja ergeben, dass viele Menschen sich im Bahnhofsviertel, gerade nachts, nicht sicher fühlen. Woraus resultiert das?
Es gibt durchaus raumspezifische Merkmale, die Kriminalitätsfurcht entstehen lassen. Dazu gehören Verschmutzungserscheinungen oder Vandalismus. Orte, die davon betroffen sind, werden in der Regel auch als unsicher empfunden. Das sind im Düsseldorfer Bahnhofsviertel Orte wie die Unterführung Ellerstraße, der Mintropplatz, der Bertha-von-Suttner-Platz und natürlich der Worringer Platz, der von vielen als monofunktional und durch eine bestimmte Gruppe dominiert wahrgenommen wird. Die Situation am Worringer Platz hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschärft. Einer der Gründe dafür liegt in der Stadtplanung. Als der Platz hinter dem Immermannhof, an der Friedrich-Ebert-Straße Ecke Karlstraße, vor einiger Zeit umgestaltet wurde und daraufhin keine Sitzgelegenheiten mehr bot, verlagerte sich die bis dahin dort ansässige Trinker-Szene zum Worringer Platz. Da wiederum treffen nun zwei Szenen aufeinander: die Trinker und die Drogenabhängigen. Das führt zu neuen Konflikten, weil diese Gruppen sehr unterschiedliche Auffassungen von Ordnung und von Verhalten im öffentlichen Raum haben. Aus der Umgestaltung des Platzes hinter dem Immermannhof ist also ein neues Problem entstanden. Angesichts dieser Erfahrung wird man den Umbau des Konrad-Adenauer-Platzes kritisch beobachten müssen. Derartige Szenen sind ja nicht steuerbar. Man kann nicht beeinflussen, wohin sie sich verlagern, es sei denn, man macht ihnen ein konkretes Angebot. In Augsburg wurde zum Beispiel eine Trinkerstube eingerichtet. Das funktioniert ziemlich gut.
Mittlerweile liegen die Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung vor. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Dass das Unsicherheitsgefühl auch durch andere Ängste, ökonomische und soziale, getrieben ist, ist ein ganz zentraler Punkt. Dass der öffentliche Raum des Bahnhofsviertels vielfältige Nutzungen aufweist, vielfältige Nutzer-Gruppen, ein anderer. Man sollte also versuchen, diesen Gruppen von planerischer Seite her gerecht zu werden. Die zentrale Frage ist: Was für ein Bahnhofsviertel wollen wir? Soll es ein Ort sein, an dem man sich gerne aufhält? Oder einer, den man einfach nur durchquert?
Beraten Sie die entsprechenden Städte auch im Hinblick auf das Thema Sicherheit?
Wir werden im Verlauf der kommenden Monate ein Präventionskonzept für das Düsseldorfer Bahnhofsviertel erarbeiten, das zahlreiche Maßnahmen umfassen wird. Die Maßnahmen sollen zuvor mit relevanten Akteuren abgestimmt und auf eine mögliche Umsetzbarkeit geprüft werden.
Warum wurden für das Projekt ausgerechnet die Städte Düsseldorf, München und Leipzig ausgewählt?
Die Bahnhofsviertel der drei Städte, wobei man in Leipzig eher von einem Bahnhofsumfeld sprechen kann, sind durch sehr unterschiedliche Nutzungsstrukturen gekennzeichnet, die Vergleiche interessant machen. Während das Münchner Bahnhofsviertel eine starke Konzentration von Hotels aufweist, ist das Düsseldorfer sehr stark durch Wohnfunktionen charakterisiert, dort leben knapp 30.000 Menschen. In Leipzig dominieren Konsumfunktionen im Bahnhof, der den direkten Übergang in die Innenstadt bildet.
Sind die Ergebnisse Ihrer Untersuchungen für die drei Städte auch entsprechend unterschiedlich ausgefallen?
Die Menschen im Düsseldorfer Bahnhofsviertel nehmen auf jeden Fall mehr Unsicherheit wahr als die in Leipzig oder München. Gerade in München fühlen sich die Menschen im Bahnhofsviertel sehr viel sicherer als in Düsseldorf.
Wie erklären Sie sich das?
Es gibt verschiedene Ideen, wie man Kriminalitätsfurcht erklären kann. Das hat zum einen mit eigenen Opfererfahrungen zu tun, aber auch mit der Medienberichterstattung und der individuellen Wahrnehmung von Vulnerabilität. Ältere Menschen haben zum Beispiel eine höhere Furcht als jüngere, obwohl sie eine geringere Opferwahrscheinlichkeit aufweisen. Wir gehen in unserem Projekt davon aus, dass Kriminalitätsfurcht eine Art Metapher für diffuse Ängste ist. Ängste, die mit sozialem Wandel, mit Modernisierungsprozessen zusammenhängen, die auf Kriminalität projiziert werden, weil Kriminalität greifbarer erscheint. Insofern betrachten wir Kriminalitätsfurcht als Ergebnis von sozialen Wandlungsprozessen. Von diesen Wandlungsprozessen ist das Düsseldorfer Bahnhofsviertel sehr stark betroffen. Dort gibt es extreme Mietsteigerungen und das in Stadtteilen, die traditionell immer eher benachteiligt waren, in denen viele Menschen leben, die sich keine teure Wohnung leisten können. Wir haben in unserem Fragebogen neben der Kriminalitätsfurcht auch andere Ängste abgefragt, ökonomische Ängste, soziale Ängste, darunter auch die, sich die eigene Wohnung nicht mehr leisten zu können. Aus anderen Studien wissen wir bereits, dass ökonomische Stabilität Sicherheit gibt. Das kann man am Beispiel München sehr gut sehen. Dort fühlten sich die Befragten im Bahnhofsviertel ja wie bereits erwähnt sicherer als in Düsseldorf.
Aber Düsseldorf ist doch auch eine sehr wohlhabende Stadt. Müsste die Furcht vor Kriminalität hier dann nicht geringer ausgeprägt sein als in Leipzig?
Das stimmt. Aber Leipzig ist insofern ein Sonderfall, als dass die Stadt wie bereits erwähnt in dem Sinne kein Bahnhofsviertel hat. Im Düsseldorfer Bahnhofsviertel wohnen knapp 30.000 Menschen, im Leipziger nicht mal 3.000. Trotzdem gibt es in Leipzig eine ausgeprägte mediale Debatte um das Thema Sicherheit rund um den Bahnhof. Wenn man das liest, denkt man, das ist Sodom und Gomorrha. Vor Ort stellt es sich dann ganz anders dar. Sehr schön. Das Bahnhofsumfeld verfügt über eine eigene Identität.
Und in Düsseldorf gibt es eine solche Identität nicht?
Meinem Eindruck nach nicht, nein. Wenn man in Düsseldorf aus dem Zug aussteigt, könnte man genauso gut in Duisburg sein. Das Bahnhofsviertel bietet keinerlei Aufenthaltsqualität, es ist in erster Linie ein Ort des Transits. Das ist aber auch genau so gewünscht, insbesondere von Seiten der Sicherheitsakteure. Deren Sorge: Wenn man Aufenthaltsqualität schafft, zieht das eine Klientel an, die man nicht haben möchte. Deshalb hat uns in unserem Projekt unter anderem die Frage beschäftigt, wie kann man eine größere Durchmischung an bestimmten Orten erreichen, sodass nicht ausschließlich eine einzelne Gruppe, beispielsweise Trinker oder Drogenabhängige, dort präsent ist.
Sie haben die Aufwertungsprozesse im Düsseldorfer Bahnhofsviertel ja bereits angesprochen. Sind davon denn auch München und Leipzig betroffen?
Ja, das eint alle drei untersuchten Städte. Und nicht nur sie. Man kann es eigentlich in jeder Stadt der Republik beobachten. Das Umfeld der Bahnhöfe gilt als „Visitenkarte der Stadt“ und wird dementsprechend aufpoliert. Für die Menschen, die dort leben, hat das natürlich Konsequenzen.
Zum Aufpolieren gehören auch neue Wohnquartiere wie das „Grand Central“. Warum möchten Menschen, die sich eine Wohnung dort leisten können, überhaupt unweit von Worringer Platz und Hauptbahnhof wohnen?
Das Leben in der Stadt erfährt bereits seit einigen Jahren eine große Konjunktur. Man spricht auch von einer sogenannten Urban Renaissance. Grund dafür sind unter anderem veränderte Mobilitätsansprüche. Was das angeht, bietet das Bahnhofsviertel natürlich eine breite Vielfalt. Die Mittelschichtler, die in Quartiere wie das „Grand Central“ ziehen, verfügen über eine hohe Beschwerdemacht. Sie gestalten ihr Umfeld nach ihren Bedürfnissen um. Die Beschwerden nehmen an solchen Orten erfahrungsgemäß zu. Die Frage ist nur, ob man da immer Ordnungs- und Sicherheitsbehörden bemühen muss. Man kann die Dinge ja auch persönlich klären. Damit lässt sich meines Erachtens viel mehr erreichen. Wenn man die Bedürfnisse und Verwundbarkeit des Anderen stärker in den Blick nimmt, kann das Verständnis wecken. Letzten Endes geht es gar nicht unbedingt um eine komplette Durchmischung, darum, dass alle bestens miteinander klarkommen. Mit einem friedlichen Nebeneinander wäre schon viel erreicht.
Sie haben vor einigen Jahren gemeinsam mit der Hochschule Düsseldorf eine Perspektiv-Umkehr vollzogen und sich mit den Angsträumen von Wohnungslosen beschäftigt. Was haben Sie dabei herausgefunden?
Das war sehr spannend. Wir haben unter anderen herausgefunden, dass der Worringer Platz von den Wohnungslosen auch als Angstraum wahrgenommen wird, an dem sie sich nicht gerne aufhalten. Wenn man also Angsträume umgestaltet, kommt das nicht nur der Mehrheitsgesellschaft zugute, sondern auch denen, die sich an den entsprechenden Orten aufhalten. Man muss sie allerdings in dem Umgestaltungsprozess auch mitnehmen. Dazu braucht es Formate, die auf die Menschen zugehen und sie nach ihren Bedarfen fragen. Eine niedrigschwellige Stadtplanung. Davon abgesehen bedarf es aus unserer Sicht auch größerer Toleranz. Letztendlich sind Drogen, Lärm oder Müll Phänomene, die zur Stadt auch dazugehören, die städtisches Leben erst zu dem machen, was es ist.
2 Kommentare
KommentierenLieber Jan Michaelis,
wenn Herr Lukas sagt, es gebe keine Aufenthaltsqualität im Düsseldorfer Bahnhofsviertel, dann meint er damit weder Gastronomie noch die Erste-Klasse-Lounge der Bahn (zu der man ja vermutlich auch nur mit einem Ticket für die erste Klasse Zutritt hat). Er meint vielmehr die Möglichkeit, sich ohne etwas zu konsumieren, im öffentlichen Raum aufhalten zu können. Derartige Möglichkeiten sind rund um den Bahnhof – abgesehen vom Brunnen am Bertha-von-Suttner-Platz und den Glasbänken am Worringer Platz (deren Rückenlehnen auch zum Teil mittlerweile wieder entfernt wurden) – rar. Und das ist von der Stadt auch genau so gewünscht.
Seltsam. Die Szene um den Hbf soll doch seit Jahren verbraemt werden, da von Aufenthaltsqualitaet zu sprechen finde ich zynisch und ignorant. Es gibt im und um den Hbf viel Aufenthaltsqualitaet, je mehr Geld man hat, unso mehr. Scheitelpunkt war die Einrichtung einer erste Klasse Lounge der Bahn am Bertha von Suttner Platz, waehrend die Mittellosen sich auf den Beckenraendern der Wasserbasins lagern duerfen. Die griechischen und tuerkischen Lokale bieten reichlich Aufenthalt mit Gastronomie rund um den Hbf.